Frau Anhalt, die Autobranche spricht seit Langem über das „Software-defined Vehicle“, aber Unternehmen wie Elektrobit laufen bei vielen Herstellern immer noch unter dem Radar. Fühlen Sie sich immer noch nicht ausreichend wertgeschätzt?
Es war tatsächlich bis vor Kurzem so, dass Software-Themen in den Entwicklungsabteilungen der Hersteller jahrzehntelang auf der vierten oder fünften Entscheidungsebene angesiedelt waren. Man betrachtete Software als ein „notwendiges Übel“. Die Erkenntnis, dass sich das grundlegend ändern muss, ist natürlich da – doch die Prozeduren und Systeme bei den OEMs sind hartnäckig.
Warum tun sich viele Autobauer so schwer damit, wettbewerbsfähige Software und schnellere Innovationszyklen zu schaffen?
Die meisten traditionellen Hersteller schleppen eine Menge historisch gewachsener Strukturen mit sich. Sie kommen aus einer Welt der Silos – vertikaler Strukturen, die alle ihre Eitelkeiten verteidigen. Gerade aber im Softwarebereich sind Silos ein Kardinalfehler. Software setzt horizontale Strukturen voraus, die prinzipiell nicht voneinander abgeschottet sind.
Sie plädieren für eine neue Rolle der Software-Zulieferer im Entwicklungsprozess.
Ja, und zwar im Interesse aller Beteiligten. Jede Software, die nicht sichtbar wird für die Endkunden, die „non-differentiating“ ist, sollte auf möglichst industrieweiten Plattformen beruhen. Wir denken, dass etwa 60 Prozent der Software in einem Automobil für den Endkunden absolut unsichtbar sind. Genau in diesen Anwendungsbereichen lohnt es sich, markenübergreifende Standards zu setzen und diese gemeinsam zu nutzen. Das ist der wesentliche Grund, warum wir bei Elektrobit auf Open Source setzen. Man muss offen sein für digitale Ökosysteme. Für die restlichen 40 Prozent der Software, die am Markt eine Differenzierung ausmachen, sollte der OEM das Pflichtenheft definieren.
Was sind die Vorteile dieser Strategie?
Wir sind erheblich schneller marktreif, wir haben eine deutlich bessere Usability und fast immer auch eine höhere Qualität – zudem weniger Bugs und Lücken. Die Autobauer schaffen es schlichtweg nicht mehr allein, diese Anforderungen zu erfüllen. Dazu gibt es einfach nicht genügend Talente auf dem Markt.
Gibt es Hersteller, die sich da leichter tun als andere?
Natürlich ist Tesla auch in dieser Hinsicht ein Vorreiter. Tesla hat von Anfang an auf zentrale Architekturen und Open Source gesetzt. Das verringert die Komplexität, erlaubt schnellere Innovationen und einfachere Updates.
Sehen Sie, dass im Zuge des „Software-defined Vehicle“ immer mehr Firmen zu Automotive-Zulieferern werden, die das bislang noch nicht waren?
Absolut, dadurch kommen ganz neue Firmen ins Auto, und das sind nicht nur die ganz Großen wie Apple und Google, sondern auch die Entertainmentbranche. Nehmen Sie beispielsweise Sony mit dem jüngsten Projekt Afeela, das sie gemeinsam mit Honda entwickeln. Daran sind auch wir beteiligt.
Was ist Ihr Beitrag?
Wir haben gemeinsam mit Sony das Vision-S-Cockpit entwickelt und im Fahrzeug integriert. Es reicht über die gesamte Breite des Fahrzeugs. Bestandteile sind die User Experience, das Infotainmentsystem und ein Hochleistungsrechner für alle Cockpit-Aufgaben. Wir sind besonders stolz darauf, dass wir diese Aufgabe auf Augenhöhe mit Sony machen konnten – wir waren gleichberechtigt. Das war für uns eine ganz neue Erfahrung, die wir so aus der Autowelt nicht kannten.
Warum drängt ein Unterhaltungsgigant wie Sony ins Auto?
Was Sony betrifft, müssen Sie das Unternehmen selbst fragen. Aber generell denke ich, dass die großen Player Interesse daran haben, ihr „Intellectual Property“ auch im Auto der Zukunft zu nutzen. Das wird ein großer Markt im Unterhaltungsgeschäft sein. Außerdem haben die großen Player wie etwa Sony schon einen weltweit etablierten Markennamen – das ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil, wenn Cockpit und Interieur des Autos für den Kunden immer wichtiger werden.
Seit einiger Zeit macht das sogenannte Metaverse von sich reden. Erwarten Sie, dass das ein Thema für die Autobranche wird?
Augmented Reality ist schon länger ein Bestandteil der Fahrzeugentwicklung. Metaverse-Anwendungen können diesen Bereich nochmals erheblich erweitern. Allerdings wissen wir noch nicht, in welche Richtung die Entwicklung geht. Ich erwarte eher Anwendungen im Unterhaltungsbereich, weniger im Bereich assistiertes Fahren.
Wie schaffen Sie es, die richtigen Fachkräfte an Bord zu holen?
Wir setzen stark auf mehr Frauen im Unternehmen. Außerdem haben wir Zugriff auf Spezialistinnen in Israel. In unserem Management Board sind schon gut 40 Prozent Frauen, das spielt sicher eine Rolle bei der ernsthaften Verfolgung dieser Strategie. Seitdem ich bei Elektrobit bin, seit 2021, haben wir jedes Jahr 25 Prozent der Neueinstellungen mit weiblichen Nachwuchskräften besetzt. Ich begreife nicht, warum dieses Potenzial nicht von mehr Unternehmen genutzt wird. Wo ich herkomme, aus Bulgarien, ist es völlig normal, dass Frauen wie ich Elektrotechnik studieren. Ich erlebe in vielen Ländern, dass das dort weit selbstverständlicher ist als in Deutschland. Ich denke, da sollte sich grundsätzlich etwas in den Vorstandsetagen bewegen. Darüber hinaus bieten wir unseren Mitarbeitenden Freiraum und Entwicklungsmöglichkeiten, was sich in der hohen Referral Rate, also Mitarbeitende werben Mitarbeitende, spiegelt. Im indischen Bangalore – ein stark umkämpfter Arbeitgebermarkt – liegt unsere Referral Rate beispielsweise bei fast 40 Prozent.