Die Michelin-Standorte in Karlsruhe und Trier werden bis Ende 2025 geschlossen. 1410 Menschen verlieren ihren Job. Als Gründe führen Sie Billig-Lkw-Reifen aus Niedriglohnländern und steigende Produktionskosten in Deutschland an. Was bedeutet das für Michelin am Standort Deutschland?
Die aktuellen Rahmenbedingungen, die sich zusehends verschlechtert haben, belasten die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Produktionsstandorte massiv. Unsere Priorität ist es, die von der Entscheidung betroffenen Mitarbeitenden so gut wie möglich zu unterstützen. Wir sind in Gesprächen mit unseren Sozialpartnern, um über die bestmögliche Unterstützung der Beschäftigten und die Umsetzung der betrieblichen Veränderungen zu sprechen. Dennoch ist und bleibt Deutschland ein wichtiger Markt für die Michelin-Gruppe und wird auch wegen der Nähe zur technologieführenden Autoindustrie hierzulande weiterhin eine wichtige Rolle spielen.
Weitere Einsparmaßnahmen für die anderen Standorte in Deutschland sind ausgeschlossen?
Deutschland bleibt ein wichtiger Markt und Standort, weshalb Michelin weiterhin mit rund 4800 Arbeitsplätzen in Deutschland aktiv sein wird. Michelin wird wertvolle kommerzielle und strategisch relevante industrielle Aktivitäten in Deutschland beibehalten: Das Pkw-Reifenwerk in Bad Kreuznach zum Beispiel stellt strategisch relevante High-Tech-Reifen her und spielt eine entscheidende Rolle für die zukünftige Marktdurchdringung von Reifengrößen ab 18 Zoll. Darüber hinaus stellt unser größtes europäisches Werk für die Runderneuerung von Lkw-Reifen in Homburg weiterhin Produkte für den europäischen Markt her und spielt eine wichtige Rolle in unserer Nachhaltigkeitsstrategie. Um diese Produktionsstandorte effizienter und umweltfreundlicher aufzustellen, werden wir sie weiter modernisieren.
Nicht nur die Standorte, auch die Produkte sollen nachhaltiger werden. 2030 sollen bei Michelin in allen hergestellten Reifen 40 Prozent nachhaltige Materialien zum Einsatz kommen.
Bis 2050 werden unsere Reifen zu 100 Prozent aus nachhaltigen, sprich erneuerbaren oder recycelten, Materialien bestehen. Heute befinden wir uns, über alle Segmente hinweg, im Durchschnitt bereits bei rund 30 Prozent. Darüber hinaus konnten wir in diesem Jahr in Le Mans einen Rennreifen präsentieren, der zu 63 Prozent aus biobasierten und recycelbaren Materialien besteht. Hier ist jedoch ein holistischer Ansatz wichtig: Denn es ist nicht nur das Produkt allein, auch Entwicklung, Produktion oder Materialkreisläufe spielen eine wichtige Rolle. Deshalb investiert Michelin jährlich rund 650 Millionen Euro in Innovationen.
Einen besonderen Weg geht Michelin beim Thema Profiltiefe. 1,6 Millimeter sind gesetzlich vorgegeben. Die meisten Hersteller und Experten raten bei drei bis vier Millimetern Restprofil zum Wechsel. Michelin hingegen verspricht, dass die eigenen Reifen bis zum gesetzlichen Minimum gefahren werden können. Was ist der Grund dafür?
Weil es unsere Premiumreifen dank ihrer Technologie möglich machen. Wir alle wollen mobil sein – und Reifen sind ein essenzieller Teil davon. Gerade deshalb steht unsere Branche in der Pflicht, die Auswirkungen unserer Produkte auf die Umwelt auf ein Minimum zu begrenzen. Allein in Europa könnten durch die Nutzung von Reifen bis zur gesetzlichen Mindestprofiltiefe jährlich bis zu 128 Millionen Reifen in der Produktion und im Recycling eingespart werden. Das entspricht rund 6,6 Millionen Tonnen CO2. In meinen Augen steht letztlich jeder Reifenhersteller in der Verantwortung, seinen Kunden qualitativ hochwertige Produkte zu liefern, die sowohl im neuen wie auch im gefahrenen Zustand zuverlässige Leistungen erbringen – und so nicht nur die Umwelt, sondern auch den Geldbeutel der Kunden schonen.
Machen Sie sich so nicht quasi selbst den Absatz kaputt?
Natürlich muss ein Unternehmen wirtschaftlich agieren, um langfristig bestehen zu können. Der Schlüssel zum Erfolg lautet: Kundenzufriedenheit. Unser Ziel ist es, mit Innovationskraft, mit langlebigen und nachhaltigeren Produkten die hohen Ansprüche unserer Kunden zu erfüllen und sie so vom Premiumangebot zu überzeugen. Für uns bei Michelin gilt: Qualität über Quantität. Sowohl für die langfristige Zufriedenheit der Fahrer als auch die Zukunft unseres Planeten. Wir müssen weg von der "Geiz ist geil"-Mentalität.
Wie schwierig ist es, "grüne" Entscheidungen zu treffen?
Unsere Zukunft muss umweltfreundlich sein, ich denke, da sind wir uns einig. Deshalb steht bei Michelin bei jeder Entscheidung die Nachhaltigkeit im Fokus, und zwar ganzheitlich: von der Produktion, über das Produkt bis hin zum Recycling. Beim Thema Ressourcenschonung etwa schauen wir genau, welche Technologien und Materialien den ökologischen Fußabdruck unserer Reifen reduzieren, um dann die richtige Entscheidung zu treffen. Das bedeutet beispielsweise, dass wir recycelte und erneuerbare Materialien nur dann in Reifen einsetzen, wenn sie insgesamt und über den ganzen Lebenszyklus hinweg einen positiven Einfluss auf den ökologischen Fußabdruck haben.
Auch der Reifenabrieb stellt eine erhebliche Umwelt- und Gesundheitsbelastung dar. Welche Antworten hat Michelin darauf?
Zwischen 75 und 90 Prozent der Umweltauswirkungen eines Reifens entstehen während seiner Nutzung. Gleichzeitig ist der Abrieb, den ein Reifen auf der Straße produziert, unerlässlich für die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer – ein klassischer Zielkonflikt. Ein Konflikt, der jeder Menge Forschungs- und Entwicklungsarbeit bedarf und dem wir bereits seit vielen Jahren unsere Aufmerksamkeit widmen. Mit solider Zwischenbilanz: Auf 1000 Kilometern erzeugen Michelin-Reifen durchschnittlich rund 28 Prozent weniger Abriebemissionen als der Durchschnitt der Premiumwettbewerber.
Frau Röttger, Sie haben beim französischen Lebensmittelkonzern Danone das Personalwesen verantwortet, ehe Sie 2020 zu Michelin kamen. Inwiefern konnten Sie Ihre Erfahrungen bei Danone bei Michelin einbringen?
Danone und Michelin sind nicht nur beide starke französische Marken, sondern ähneln sich auch in ihrer Unternehmenskultur. Für beide steht der "Mensch" klar im Mittelpunkt. Das betrifft sowohl Mitarbeiter wie auch Kunden. Ich konnte bei Danone viele Erfahrungen sammeln, die mir heute helfen, effektiver für meine Mitarbeiter da zu sein. Gerade im aktuellen Kontext spielt nicht nur das "Was", sondern insbesondere das "Wie" eine entscheidende Rolle. Aber auch beim Umgang mit Kunden bringe ich noch heute viele Erfahrungen von Danone ein. Beide Branchen haben vergleichbare Kundenstrukturen, sodass ich auch hier viel übertragen konnte – beispielsweise was Handelspartnerschaften oder die zielgerichtete Kommunikation mit Endverbrauchern anbelangt.
Sie sind auch Vizepräsidentin des Wirtschaftsverbands der deutschen Kautschukindustrie (wdk). Umgeben sind sie dort im Präsidium von vier Männern. Was tun Sie dafür, dass die Reifenbranche künftig diverser aufgestellt ist?
Die Automobilbranche befindet sich gegenwärtig in einem tiefgreifenden Wandel – sei es im Hinblick auf Nachhaltigkeit oder alternative Antriebe. Um all diese neuen Themen voranzutreiben, bedarf es unterschiedlicher Perspektiven, insbesondere, um den vielfältigen Wünschen der Kunden gerecht zu werden. Dieser Ansatz prägt nicht nur unsere Denkweise bei Michelin, sondern sollte auch für die gesamte Branche von Bedeutung sein. Aus diesem Grund finde ich Vereinsarbeit wie die des wdk sehr wichtig. Dank unterschiedlicher und diverser Perspektiven können wir hier aktiv die Rahmenbedingungen des Landes mitgestalten. Ein entscheidender Faktor ist für mich außerdem, dass es Vorbilder gibt. Frauen haben seit jeher eine große Rolle in der Automobilbranche gespielt – ob Wilhelmine Erhardt oder Wegbereiterinnen wie Bertha Benz. Sie haben nicht nur die Vergangenheit geprägt, sondern auch den Grundstein für eine zukünftige, diversifizierte Branche gelegt, in der Frauen weiterhin eine Schlüsselrolle spielen. Und genau dafür stehe auch ich ein.
Das Interview führte Martin Wittler.
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