Doch kein Engpass bei Ladesäulen?

Wie viel Ladeinfrastruktur braucht Europa auf dem Weg zum emissionsfreien Fahren im Jahr 2030? Auf diese scheinbar einfache Frage gibt es sehr unterschiedliche Antworten. Und es ist kein Zufall, dass jetzt die Autobranche und Umweltverbände diese Frage kontrovers diskutieren.

Die Politik in Europa ist nämlich dabei, über ein europäisches Infrastrukturgesetz zu entscheiden. Es soll die Mitgliedsstaaten dazu verpflichten, die Ladeinfrastruktur proportional zum nationalen Bestand an Elektroautos auszubauen. Viele Einzelheiten der Verordnung sind aber noch unklar.

Würde dieses noch nicht in Kraft getretene EU-Infrastrukturgesetz schon jetzt gelten, müsste Deutschland bis 2030 bis zu 1,7 Millionen öffentliche Ladepunkte aufbauen. Derzeit gibt es allerdings erst 63.000. Europaweit waren per Ende 2021 rund 340.000 öffentliche Ladepunkte betriebsbereit, immerhin rund drei Mal so viel wie 2018.

Klar ist indes: Es besteht aktuell eine große Lücke zwischen vorhandener Ladekapazität und künftig zu erwartendem Bedarf. Zur Frage, wie groß diese Lücke aber noch in 2030 sein wird, bestehen sehr unterschiedliche Meinungen.

Die Autobranche befürchtet einen Verlust des Verbrauchervertrauens, wenn das Laden schwierig, stressig und unsicher bleibt. Umweltverbände dagegen halten einen Großteil solcher  Befürchtungen für übertrieben. Sie sorgen sich darum, dass milliardenschwere Kosten für die Ladeinfrastruktur die öffentliche Akzeptanz für das elektrische Fahren mindern könnten.

Der europäische Automobilverband ACEA warnt seit Monaten vor einem zögerlichen Ausbau der öffentlichen Ladeinfrastruktur. Und auch VDA-Präsidentin Hildegard Müller sieht eine wachsende Diskrepanz zwischen steigenden Elektroflotten auf der einen Seite und einem nur schleppend vorankommendem Ausbau der Ladeinfrastruktur. "Die unzureichende Geschwindigkeit beim Ausbau der Ladeinfrastruktur droht zum entscheidenden Engpass für den Hochlauf der Elektromobilität zu werden", warnt sie.

In einem gemeinsamen Positionspapier "Masterplan Ladeinfrastruktur 2.0" vom Februar empfehlen die VDA-Mitglieder deshalb zahlreiche Maßnahmen auf bundes-, landes- und kommunaler Ebene. Ihr Ziel: Das Nadelöhr Ladekapazitäten soll rasch entschärft werden, damit die Verbraucher keine Sorgen mehr haben, auf die E-Mobilität umzusteigen.

Zentrale Forderung des VDA ist in dem Positionspapier die Schaffung von einer Million öffentlicher Ladepunkte bis 2030 und ein vorauseilender Ausbau der notwendigen Infrastruktur: stets sollen so viele Ladepunkte zur Verfügung stehen, wie erst in zwei Jahren erwartet werden.

Fast zeitgleich mit dem VDA hat der europäische Automobilherstellerverband ACEA im März ein 80-seitiges Positionspapier "European EV Charging Infrastructure Masterplan" vorgelegt.

Die Kernaussage darin ist eine beeindruckende Zahl: Den Berechnungen des ACEA zufolge sind in Europa bis 2030 rund 6,8 Millionen öffentliche Ladepunkte für PKWs erforderlich, hinzu kommen noch mehrere hundertausend Ladepunkte für Flottenbetreiber und schwere Lkw.

Um diese Zahl an Ladepunkten aufzubauen, sind dem Verband zufolge Investitionen in Höhe von 280 Milliarden Euro notwendig. Der ACEA rechnet damit, dass 30 Prozent der Kosten jeweils vom privaten und öffentlichen Sektor getragen werden, 15 Prozent von den Stromnetz-Betreibern und 25 Prozent von den Anbietern nachhaltig erzeugter Energie.

Ebenso wie der VDA in Deutschland schlägt der ACEA Alarm wegen des geringen Ausbau-Tempos der Infrastruktur. Im Schnitt müssten in Europa demnach wöchentlich 14.000 neue öffentliche Ladepunkte hinzukommen - tatsächlich sind es gerade einmal 2000.

Das Lade-Szenario der Autobranche sieht somit ziemlich düster aus.

Ganz anders beurteilt die europäische Umweltorganisation Transport & Environment die Entwicklung beim Ladegeschehen. Sie legte am Donnerstag ein Papier vor, wonach die Ängste der Autobranche vor einem viel zu schwachen Ladenetz völlig fehl am Platze seien.

Tatsächlich nämlich könne "der Ausbau der Ladeinfrastruktur mit der steigenden Zahl an Elektrofahrzeugen infolge der Verschärfung der EU-Flottengrenzwerte für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge Schritt halten", ist Friederike Piper überzeugt, bei T&E Deutschland für den Bereich E-Mobilität zuständig.

Die Ziele der Automobilindustrie seien "unnötig hoch" und würden "enorme öffentliche Subventionen für Ladeinfrastruktur erfordern", moniert die Organisation. Die Ziele des ACAE beruhten auf den unrealistischen Annahmen, wonach 60 Prozent der Ladevorgänge an öffentlichen Punkten erfolgten. T&E erwartet dagegen, dass im Schnitt maximal 30 Prozent aller Ladevorgänge an öffentlichen Ladestellen erfolgen werden.

Dazu meint Piper: „Viel hilft viel gilt nicht unbedingt für öffentliche Ladepunkte. Ein massiver Ausbau der Ladeinfrastruktur, wie ihn einige Vertreter der Autoindustrie fordern, ist unnötig und würde bedeuten, dass am Ende die Steuerzahle dafür gerade stehen müssen."

T&E kommt zu dem Schluss, dass in Deutschland "maximal drei Millionen öffentliche Ladepunkte" benötigt werden, um den Bedarf der wachsenden Anzahl von E-Autos bis 2035 zu decken.

Entscheidend für eine solche Bedarfsprognose ist zum einen der tatsächliche Anteil öffentlicher Ladepunkte an allen Ladevorgängen (siehe oben) und zum anderen die  tatsächliche Nutzungsdauer. Wegen der immer effizienteren E-Autos werde diese Nutzungsdauer an den öffentlichen Ladesäulen bis 2030 pro Fahrzeug deutlich sinken, erwartet T&E. Die Folge: Dann wären entsprechend weniger Ladesäulen pro zugelassenem E-Auto nötig.

Welche der Annahmen letztlich am stärksten greifen, ist heute schwer prognostizierbar. Deutlich wird aber, dass exake Prognosen über den Bedarf der Ladeinfrastruktur schwierig sind und von vielen, heute noch kaum berechenbaren Faktoren abhängen.

Aus dem Datencenter:

Entwicklung der reinen Elektroautos in Deutschland Januar 2020 bis März 2022