Als "Fortschrittskoalition" ist die Ampel angetreten, nach mehr als zwei Jahren im Amt überschatten erneut viele Konflikte ihre Arbeit. Die FDP blockiert Vorhaben auf EU-Ebene, zu wichtigen Themen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik gibt es einen Grundsatzstreit. Dabei hatte sich die Koalition aus SPD, Grünen und FDP eigentlich vorgenommen, harmonischer zu arbeiten.
EU-Flottengrenzwerte: Hersteller und Zulieferer dafür, FDP dagegen
Im Koalitionsstreit über schärfere CO2-Standards für Lkw in der EU bat das Kanzleramt auch die Autoindustrie zu einem digitalen Gespräch. Die Mehrheit der anwesenden Hersteller und Zulieferer habe die Regierung aufgefordert, den neuen Grenzwerten zuzustimmen. Die FDP blockiert jedoch das Vorhaben.
Die Liberalen blockieren aktuell insbesondere zwei Vorhaben. Dabei geht es um neue und schärfere Vorgaben für den CO2-Ausstoß von Lastwagen und Bussen in der EU. Die FDP will ihr Veto gegen eine eigentlich bereits ausverhandelte Verordnung einlegen. Sie verlangt einen stärkeren Einsatz klimaneutraler Kraftstoffe und pocht auf "Technologieoffenheit". In anderen Ministerien rätselt man aber über die wahren Beweggründe. Die geplante Verordnung sei bereits technologieoffen. Geht es der FDP darum, sich als Partei des Verbrenners zu positionieren und damit angesichts schlechter Umfragewerte ihr Profil zu schärfen?
Am Donnerstag kam es auf Betreiben des Kanzleramts zu einem digitalen Gespräch zwischen Vertretern mehrerer Ministerien und Unternehmensvertretern. Aus Teilnehmerkreisen verlautete danach, die Mehrheit der anwesenden Vertreter von Herstellern und Zulieferern habe die Bundesregierung aufgefordert, den neuen Flottengrenzwerten zuzustimmen. Lkw-Käufer brauchten Planungssicherheit, sonst zögerten sie beim Kauf von E-Lastwagen.
Am Freitag ist eine Abstimmung auf EU-Ebene geplant – ob noch ein Ausweg gefunden werden kann und ob das Vorhaben bei einer deutschen Enthaltung überhaupt durchkommt, ist offen.
Bereits klar scheint, dass sich Deutschland bei der Abstimmung über ein geplantes EU-Lieferkettengesetz enthält – auf Druck der FDP, die Nachteile für die deutsche Wirtschaft befürchtet. Auch hier könnte eine deutsche Enthaltung das gesamte Regelwerk scheitern lassen, weil in Brüssel die dafür notwendige Mehrheit auf der Kippe steht.
Am Mittwoch platzte deswegen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) der Kragen. Sie machte deutlich, Deutschlands Verlässlichkeit in der EU stehe auf dem Spiel und sagte: "Wenn wir unser einmal in Brüssel gegebenes Wort brechen, verspielen wir Vertrauen." Die Chefverhandlerin des Europaparlaments für das EU-Lieferkettengesetz, die niederländische Abgeordnete Lara Wolters, sagte, man werde in der EU versuchen, um Deutschland herum Mehrheiten zu bilden und Deutschland wegen des Verhaltens der FDP nicht mehr beim Wort nehmen.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hält sich bei den Streitfragen bisher zurück – um den Koalitionsfrieden zu retten? Am Donnerstag vergangener Woche sagte der Chef der "Fortschrittskoalition" mit Blick auf den Streit um das EU-Lieferkettengesetz: "Der Fortschritt ist eine Schnecke."
Unterhändlerinnen und Unterhändler der EU-Staaten hatten sich bereits im Januar darauf geeinigt, dass neue und schärfere Vorgaben für sogenannte Flottengrenzwerte kommen sollen. Mit diesen Grenzwerten ist geregelt, wie viel klimaschädliches CO2 die Fahrzeuge künftig ausstoßen dürfen. Die CO2-Emissionen von Reisebussen und Lkw sollen bis 2040 um 90 Prozent sinken - verglichen mit 2019.
Die FDP verlangt aber Nachbesserungen. "Wir setzen uns dafür ein, dass die EU beim Thema Technologieoffenheit umsteuert", hatte FDP-Fraktionschef Christian Dürr der Deutschen Presse-Agentur gesagt. Die FDP halte es für zwingend notwendig, dass synthetische Kraftstoffe auf die sogenannten Flottengrenzwerte angerechnet werden.
SPD-Fraktionsvize Detlef Müller sagte, es sei gängige Praxis, dass die Bundesregierung sich bei Entscheidungen in der EU enthalte, wenn kein Konsens innerhalb der Regierung bestehe. "Ärgerlich ist, wenn zunächst Zustimmung zu Kompromissen zugunsten der Interessen Deutschlands signalisiert wird, diese dann aber in letzter Minute zurückgezogen wird. Das schwächt das Vertrauen in Deutschland und verschlechtert unsere Verhandlungsbasis. Politik ist mehr, als zu sagen, was nicht geht." Sie müsse vor allem verlässlich sein. "Ich erwarte hier konstruktive Zusammenarbeit seitens unseres Koalitionspartners."
Philipp Türmer, Bundesvorsitzender der Jusos, kritisierte: "Die FDP kennt aktuell insbesondere auf europäischer Ebene nur einen Zustand: Blockade." Die Liste an Themen, bei denen sie sich nicht einmal mehr gesprächsbereit zeige, werde immer länger. "Bisher sorgte das vor allem dafür, dass die selbst ernannte Fortschrittspartei zu einer Partei des Stillstands wird."
Greenpeace-Mobilitätsexperte Benjamin Stephan sagte: "Es ist höchste Zeit, dass Olaf Scholz die FDP-Posse über Lkw-Grenzwerte zur Chefsache macht. Der Kanzler muss diese neue Rückwärtsrolle der FDP stoppen, bevor die Partei mit ihren inszenierten Blockaden Deutschland in der EU endgültig zu einem unzuverlässigen Wackelkandidaten macht." (dpa-AFX/dpa/os)
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