Berlin. Es gab eine Zeit, da bauten Autohersteller Autos und Computerfirmen bauten Computer. Doch heute ist nahezu jedes Automobil ein rollender Computer mit Dutzenden Sensoren. Die Grenzen verschwimmen. «Unternehmen der Technologie-Branche rücken immer tiefer ins einstige Hoheitsgebiet der Autoindustrie vor», sagt Autoexperte Thilo Koslowski vom IT-Marktforscher Gartner. Das treffe nicht nur die Fahrzeuge, sondern - was viel gravierender ist - auch das Geschäftsmodell. «Ich bin mir nicht sicher, ob die Mehrheit der Autoindustrie gewappnet ist, dem Druck der neuen Player standzuhalten», sagt der Gartner-Analyst.
Auch Branchenexperte Stefan Bratzel sieht neue Spieler im Anmarsch. «Insbesondere die Big-Data Player der IT-Industrie spielen künftig in der Wertschöpfungskette der Automobilindustrie eine sehr wichtige Rolle», analysiert er. Die Autobauer agierten derzeit nach dem Modell der «Co-opetition»: Kooperation und Wettbewerb zugleich. So arbeiten sie einerseits vor allem mit Apple und Google zusammen, um Smartphones und Apps ins Auto zu bringen. «Andererseits sehen sie die IT-Player auch als künftige Konkurrenten für den Mobilitätskunden der Zukunft und wollen ihnen keinen umfassenden Zugang zum Auto gewähren», betont Bratzel.
In den nächsten Wochen wird der Kampf um die Zukunft des Autos gleich zwei Mal im Rampenlicht ausgetragen: Bei der Elektronik-Messe CES in Las Vegas und danach der Automesse in Detroit, dem Herzen der amerikanischen Fahrzeugindustrie. Die CES, auf der früher traditionell eher Fernseher, Hifi oder Computer vorgestellt wurden, wurde in den vergangenen Jahren immer mehr auch zur Autoshow. Im vergangenen Jahr wurde Audi-Chef Rupert Stadler zu seiner Eröffnungs-Keynote in einem selbstfahrenden Auto des Unternehmens auf die Bühne kutschiert.
Diesmal übernimmt Daimler-Chef Dieter Zetsche diesen zentralen Auftritt. Kurz vor der Messe wurde eine wegweisende Partnerschaft bekannt: Der südkoreanische Elektronikriese LG soll mit seinen Stereokameras die «Augen» für die automatisierten Autos von Mercedes liefern. BMW will in Las Vegas kommende Woche ein fortgeschrittenes System zur Vermeidung von Kollisionen zeigen, sowie ein Auto, das allein dank seiner Sensoren ohne Fahrer im Parkhaus unterwegs sein kann. Audi verspricht zwei Weltpremieren.
Als Google im Herbst 2010 seine Flotte selbstfahrender Toyotas enthüllte, die still und heimlich schon mehr als 200.000 Kilometer zurückgelegt hatten, war das für die Autobranche ein Schock und ein Weckruf. Seitdem haben die Autobauer mächtig aufgeholt. Immer neue Fahrassistenz-Systeme, die dem Fahrer Arbeit etwa im Stau abnehmen, finden Schritt um Schritt den Weg in den Alltag. VW hat einen Nothalte-Assistenten, Volvos Modell XC90 bremst notfalls selbst an Kreuzungen, um eine Kollision zu verhindern.
Doch am Ende geht es um viel mehr als Apps, Smartphones oder gar automatisiertes Fahren: Die Digitalisierung pflügt auf lange Sicht das ganze Geschäft um. «Durch Technologie verändert sich grundlegend, wie und wo man einen Kunden erreicht - und wie man einen Mehrwert für ihn schafft», sagt Gartner-Experte Koslowski. Und hier tue sich die Autobranche, die in großen Teilen immer noch stark ingenieurslastig sei, sehr schwer. Große Teile der Industrie seien in einer Starre: «Ich glaube nicht, dass man erkannt hat, wie sehr sich das ganze Automobil verdigitalisieren wird in der Zukunft.»
Die deutschen Autobauer experimentieren schon mal damit, Mobilität statt Fahrzeugen zu verkaufen. BMW betreibt etwa den Carsharing-Dienst DriveNow. Daimler hat den Gegenpart Car2Go, die Taxi-App MyTaxi sowie den Dienst Moovel, der den optimalen Weg mit Auto, Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln errechnen soll.
Aber der Wandel könnte noch viel tiefer gehen als das. Denn während die Autoindustrie immer noch einen mehr oder minder aktiven Fahrer im Mittelpunkt sieht, setzt ein potenzieller zukünftiger Rivale wie Google ganz auf den Computer. In dem kleinen runden Zweisitzer des Internet-Konzerns sind weder Lenkrad, noch Pedale vorgesehen - auch wenn Google sie in Test-Fahrzeugen noch provisorisch einbauen muss, weil es so vorgeschrieben ist.
«Google ist mehr daran interessiert, die «verlorene Zeit» im Auto dem Menschen zurückzugeben», umschreibt es Koslowski. Auch Bratzel erwartet, dass sich die Insassen zunehmend mit anderen Dingen als mit Autofahren beschäftigen werden. Die Zeit im Auto und die dabei gesammelten Daten wollten die neuen Player für neue Mehrwert-Angebote und Geschäftsmodelle nutzen. Diese Dienste könnten für die Verbraucher mit der Zeit relevanter als das Auto selbst werden. (dpa/gem)