Ineos: Recaro-Pleite und weitere Sorgen

Am 25. September reiste Ineos-Automotive-Chefin Lynn Calder nach China, um dort die Markteinführung des Modells Grenadier zu feiern. „China verfügt über das enorme Potenzial, einer unserer wichtigsten Absatzmärkte zu werden, und ich sehe dies als einen sehr spannenden nächsten Schritt für unsere Marke“, sagte Calder vor den geladenen Partnern der Marke und war bemüht, Aufbruchstimmung zu erzeugen.

In Peking, Shanghai, Chengdu und Guangzhou wurden Vertriebs- und Servicezentren eröffnet. Die ersten Auslieferungen an Kunden sollten noch vor Ende Oktober beginnen.

Ob das klappt, ist allerdings fraglich. Denn praktisch zeitgleich musste Calder im ehemaligen Mercedes-Werk Hambach, wo der Grenadier für die Welt gefertigt wird, die Produktion stoppen und 800 Beschäftigte in Kurzarbeit schicken. Hintergrund ist die Pleite des Sitzherstellers Recaro.

“Von allen möglichen Komponenten war es ausgerechnet eine sehr wichtige“, kommentierte Calder den Ausfall in der britischen Zeitung „Daily Telegraph“, ohne Details oder Namen zu nennen. Ironischerweise soll die Schieflage bei Recaro, so zumindest ist aus Unternehmenskreisen zu hören, durch mangelnde Stückzahlen des größten Auftraggebers, nämlich Ineos, verursacht worden sein.

Auf die Frage, warum Ineos nicht versucht habe, Recaro als Zulieferer durch eine Finanzspritze zu stabilisieren, sagte ein Ineos-Sprecher der Automobilwoche, man könne einzelne Geschäftsbeziehungen nicht kommentieren, es sei eine komplexe Situation. Allerdings soll inzwischen eine Lösung gefunden sein. Wie die genau aussehen soll, werde zeitnah kommuniziert.

„Bei zurückhaltender Planung ist eine Rückkehr zum vollen Produktionstempo Anfang 2025 avisiert“, so der Sprecher. Eigentlich kann dies nur einen Wechsel des Sitzzulieferers bedeuten, da nach aktuellem Stand Recaro seine Fertigung in Kirchheim/Teck zum Jahresende einstellen wird.

Für Ineos bedeutet die aktuelle Situation einen herben Rückschlag im Bemühen, sich als Autohersteller zu etablieren. Zwar war die Resonanz auf den Geländewagen bei der Vorstellung vor vier Jahren groß. Jim Ratcliffe, Chef des Ineos-Konzerns und Multimilliardär, wollte einen echten Offroader im Geiste des eingestellten alten Land Rover Defender entwickeln lassen und stellte dafür geschätzte 1,5 Milliarden Euro bereit.

Entwickeln ließ er es von Ingenieuren und Zulieferern in Deutschland und Österreich. Die Motoren kommen von BMW.

Doch Corona-Krise und wackelige Lieferketten verzögerten den Hochlauf in der Produktion erheblich. Erst im vergangenen Jahr kamen nennenswerte Stückzahlen auf den Markt. Trotz der angeblich schon vor Verkaufsstart vorliegenden 20.000 Bestellungen blieben die Stückzahlen zuletzt hinter den Erwartungen zurück.

So wurden nach Zahlen des Datendienstleisters Marklines in den ersten neun Monaten des Jahres 2024 in Deutschland 392 zugelassene Grenadier registriert, ein Minus von 36 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Toyota konnte vom Konkurrenzmodell Land Cruiser von Januar bis September immerhin 531 Exemplare absetzen. In ganz Europa waren es nur 1450 Einheiten des Grenadier, ebenfalls ein Rückgang um mehr als ein Drittel.

Besser läuft es in den USA. Das Land ist schnell zum größten Markt aufgestiegen. Seit dem Markteintritt im vergangenen Herbst pendeln sich die Verkaufszahlen bei über 500 Einheiten pro Monat ein, in diesem Jahr sind es bereits knapp 5000.

Dennoch reicht das nicht, um die Produktion in Hambach wirklich auszulasten. Während Lynn Calder im Gespräch mit der Automobilwoche im Juni dieses Jahres noch von möglichen 30.000 Einheiten für 2024 gesprochen hatte, sollen es nun 10.000 weniger sein.

Dabei hadert Calder auch mit dem Vertriebsmodell. Je nach Markt vertreibt Ineos seine Fahrzeuge bisher über Händler – wie etwa in Deutschland – oder im Direktverkauf über das Agenturmodell oder einen Generalimporteur. Zweifel hat Calder vor allem am Erfolg des Agenturmodells. "Es war in einer Zeit geboren, als die hohe Nachfrage nach Fahrzeugen die Umsetzung sehr erleichtert hat", so Calder.

Diese Konditionen seien nun aber nicht mehr gültig. Gerade als neuer Hersteller gebe es gute Gründe, den Verkauf erfahrenen Händlern zu überlassen, zumal der Verwaltungsaufwand mit entsprechenden IT-Systemen im Agenturmodell erheblich sei.

Anpassen musste Calder auch die Marketing-Strategie, um das Fahrzeug für einen breiteren Kundenkreis attraktiv zu machen. Zunächst wurde der Grenadier für den harten Einsatz im Gelände angepriesen, ein Auto also für Förster, Landwirte oder NGOs, die in unwegsamem Gelände unterwegs sind.

Mit einer Werbekampagne während der Fußball-Europameisterschaft wurde dagegen der Lifestyle-Aspekt betont, um den potenziellen Kundenkreis zu vergrößern. „Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass der Geländewagen Grenadier in Verbindung mit dem Namen Ineos noch nicht geläufig ist“, so Calder.

Bevor das erste Modell nicht richtig in Gang gekommen ist, scheut Ineos-Chef Jim Ratcliffe inzwischen auch weitere Investitionen. So wurde das bereits angekündigte elektrische Modell Fusilier auf Eis gelegt. Es sollte ursprünglich 2027 auf den Markt kommen.

Den Schritt begründete Calder mit der zögerlichen Akzeptanz von E-Fahrzeugen bei den Verbrauchern und der Unsicherheit der Branche in Bezug auf Zölle, Zeitpläne und Steuern. „Als neuer Kleinserienhersteller können wir nur Fahrzeuge produzieren, die sich auch verkaufen", so Calder.

Aufgeben kommt für gdie ebürtige Schottin, die bei Ineos bereits verschiedene schwierige Aufgaben gelöst hat, aber nicht in Frage. „Dass wir die Produktion zu einem Zeitpunkt stoppen müssen, in dem wir richtig Fahrt aufnehmen, ist sehr frustrierend – aber es wird unseren Willen nicht brechen“, so Calder im Daily Telegraph.

Sollte Anfang des Jahres der Zweischicht-Betrieb in Hambach wieder aufgenommen werden, dann wären im Jahr 2025 theoretisch 36.000 produzierte Einheiten möglich. Die wird Calder auch brauchen, damit Ineos-Chef Jim Ratcliffe angesichts der hohen Investitionen nicht die Geduld verliert.