Autoreifen: Das Restprofil-Dilemma

128 Millionen Altreifen und 6,6 Millionen Tonnen CO2 lassen sich jedes Jahr in Europa vermeiden, wenn die Regelung der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UN-ECE) R 117.04 konsequent umgesetzt wird. Das zumindest hat der Reifenhersteller Michelin errechnet.

Die Verordnung gilt seit 1. Juli in Europa und soll sicherstellen, dass auch länger gebrauchte Reifen eine bestimmte Leistungsfähigkeit gewährleisten. Die Reifen könnten also länger gefahren werden, die Umwelt profitiert – so der Grundgedanke. Die Branche begrüßt die neue Verordnung, reagiert sonst jedoch noch zurückhaltend.

Michelin empfiehlt bislang als einziger Hersteller, hauseigene Reifen bis zum gesetzlich festgelegten Mindestprofil von 1,6 Millimetern zu fahren. Die Franzosen begründen ihre Haltung mit dem Argument, „dass nur so Themen wie Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung in den Mittelpunkt gerückt werden und gleichzeitig die Sicherheit bis zur gesetzlichen Mindestprofiltiefe des Reifens bewertet wird“. Das sagt Cyrille Roget, Director Scientific & Innovation Communication bei Michelin.

Der ADAC begrüßt die neue Verordnung, sieht jedoch das 1,6-Millimeter-Versprechen von Michelin kritisch. „Auch wenn der genannte Reifenhersteller sich klar zu einer längeren Nutzungsdauer positioniert, was im Sinne der Nachhaltigkeit und Kostenreduktion wünschenswert wäre, ist dies aus unserer Sicht aktuell noch fahrlässig“, sagt Dino Silvestro, Leiter für Fahrzeugtests beim ADAC.

Die neue Verordnung decke nicht alle relevanten Aspekte ab, so der Experte. Getestet würden ausschließlich längsdynamische Fahrmanöver, zum Beispiel das Bremsen bei Nässe mit einer Restprofiltiefe von zwei Millimetern, „aber nicht die aus unserer Sicht kritischen Fahrmanöver im Bereich der Querdynamik“, so Silvestro.

Ähnliche Bedenken äußert Michael Schwämmlein, Geschäftsführer Technik beim Bundesverband Reifenhandel (BRV). „Der Nassgrifftest bezieht sich ausschließlich auf die Längshaftung bei einer Wassertiefe zwischen 0,5 und 1,5 Millimetern“, sagt er.

Eine Bewertung des Aquaplaning-Verhaltens bei größeren Wassertiefen liege nicht vor. Gerade dort aber schwächeln abgefahrene Reifen.

Eine ADAC-Untersuchung ergab, dass bei zwei Millimetern Restprofil Leistungseinbußen bei der Querdynamik auftreten. So bestehe die Gefahr, „dass bei zu schneller Kurvenfahrt schlagartig die Haftung abreißt“, so Silvestro.

ADAC und BRV raten weiter zum Reifenwechsel bei einer Restprofiltiefe von drei Millimetern bei Sommerreifen und von vier Millimetern bei Winterreifen.