Warum der Audi-Standort Neckarsulm zum KI-Hotspot werden soll

Das Aufatmen unter den meisten der derzeit rund 15.000 Beschäftigten am Audi Standort Neckarsulm war groß, als CEO Gernot Döllner und der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Jörg Schlagbauer am Vorabend der Bilanzpressekonferenz Mitte März eine Eingung im wochenlangen Gezerre um die Audi-Zukunft in Deutschland verkündeten. Die Perspektive, die dabei für Neckarsulm skizziert wurde, fand auch den Beifall der lokalen Arbeitnehmervertreter. 

Was wenig verwundert. Schließlich klingt das Versprechen, den Standort Audi-weit zum Zentrum für KI und Digitalisierung zu entwickeln, sehr zukunftsfähig. Es sind genau die Themenfelder, die für den künftigen Erfolg in der Automobilindustrie von allen Kennern der Materie als entscheidend angesehen werden.

Dabei würde einem bei der Suche nach einem geeigneten Standort für derlei Aktivitäten Neckarsulm nicht sofort in den Sinn kommen. Die Nummer 2 unter den deutschen Audi-Werken ist kein Vorzeigestandort der Elektromobilität, in der Produktion dominieren Verbrenner und Plug-in Hybride der Modellreihen A5, A6, A7 und A8, einziges reines E-Modell ist der e-tron GT.

Aber man sollte sich nicht täuschen lassen. Die Schlüsselbegriffe für die Wahl lauten IPAI (Innovation Park Artificial Intelligence) und Böllinger Höfe. 2021 wurde auf Initiative des Wirtschaftsministeriums Baden-Württemberg das IPAI gegründet.

Die Idee: der Aufbau eines europaweit führenden Zentrums, das die gesamte Wertschöpfungskette der KI abdecken soll, von der praxisnahen Forschung, Entwicklung, Anwendung und Kommerzialisierung bis zur Qualifizierung von Fachkräften.

Ende dieses Jahres läutet IPAI mit dem Spatenstich für den IPAI Campus die nächste Wachstumsstufe ein. In direkter Nachbarschaft zum Audi-Standort Böllinger Höfe entstehen auf einer Fläche von 30 Hektar KI-Reallabore, Rechenzentren und Arbeits- und Projektflächen für mehr als 5.000 Menschen, die rund um KI arbeiten.

Größter privater Förderer des IPAI ist die Stiftung von Lidl-Gründer Dieter Schwarz, die ebenso wie das Land Baden-Württemberg 50 Millionen Euro einbringt. Mit dabei ist seit der ersten Stunde Audi. Was nicht verwundert, schaut man auf die Themenfelder, die das IPAI definiert hat. Dass Produktion und Logistik Topthemen auf der Agenda sind, geht wesentlich auf Audi zurück.

Der Premiumhersteller wiederum produziert am Standort Böllinger Höfe eine Kleinserienfertigung – den e-tron GT. Von übergeordneter Bedeutung sind die Böllinger Höfe aber als Reallabor, um dort in der Praxis intelligente Lösungen für die vollvernetzte und smarte Fabrik zu erproben. 

Dazu hat der Autobauer mit wichtigen Technologiepartnern aus dem Umfeld des IPAI und des Wissenschaftscampus Heilbronn die "Automotive Initiative 25" gegründet, unter anderem sind AWS, Fraunhofer, SAP und die TU München (TUM) dabei: "An unserem Standort Neckarsulm finden sich dank des Reallabors Böllinger Hofe und des digitalen Ökosystems in Heilbronn ideale Voraussetzungen, um die digitale Fabriktransformation voranzutreiben", sagt ein Audi-Sprecher und ergänzt: "Gemeinsam mit unseren Partnern nutzen wir die Vorteile des Ökosystems, um ganz nah an den neuesten KI-Entwicklungen zu sein."

Dabei nehme das IPAI die Rolle als zentraler Knotenpunkt ein, an dem Audi mit Partnerunternehmen direkt an den neuesten Innovationen in der Künstlichen Intelligenz mitgestaltet.

Im Ergebnis sei die positive Wirkung des engen Schulterschlusses zwischen Unternehmen und Wissenschaft deutlich sichtbar.  Schon heute gebe es bei Audi zahlreiche KI-Anwendungsfälle in verschiedenen Reifegraden – vom Ideenstatus über die Erprobung bis zum operativen Betrieb.

Derzeit fokussieren sich die Experten auf KI-gestützte Überwachung von Fertigungsprozessen und Anlagensteuerung, auf Qualitätsüberwachung, Projekte mit Generativer KI sowie KI-gestützte Prozesse für Logistikketten.

Eines dieser Produktionsprojekte, das aus dem speziellen Neckarsulmer Digitalisierungs-Ökosystem hervorgegangen ist, ist die bei Audi erstmals eingesetzte virtuell gesteuerte Fertigung im Karosseriebau. Dabei setzt Audi in der Kleinserienfertigung des e-tron GT eine virtuelle speicherprogrammierbare Steuerung (vSPS) von Siemens auf der Plattform Edge Cloud 4 Production (EC4P) ein.

Der Einsatz der vSPS, so Audi-Produktionschef Gerd Walker in einem Statement von Ende März, "ist ein wichtiger Produktivitätssprung im Rahmen unserer Produktionsstrategie 360factory hin zu einer flexiblen und datengetriebenen Fertigung".

Nach dem erfolgreichen Einsatz in der Audi e-tron GT-Fertigung in den Böllinger Höfen wird aktuell bereits der Rollout der Technologie im Werk Ingolstadt vorbereitet.

Die positiven Erfahrungen beim Schwerpunkt Produktion und Logistik, hat bei Audi weitere Begehrlichkeiten geweckt. Inzwischen hat der Autobauer seine Präsenz beim IPAI weiter ausgebaut und will die KI- und Digitalisierungsaktivitäten auf den Bereich Entwicklung ausweiten.

Dazu gibt es vermutlich nähere Informationen, wenn der Autobauer Details bekannt gibt, wie der Ausbau des Standorts zum KI- und Digitalisierungszentrum strategisch, zeitlich und finanziell über die Bühne geht. Vor Ort ist man selbstbewusst und ist sich sicher: Neckarsulm ist die ideale Wahl für diese Zukunftsaufgaben.