Er kam, sah und staunte - trotz der fast zweijährigen Vorbereitszeit auf den Top-Job bei Audi. Markus Duesmann wusste vermutlich ziemlich genau, was da an Aufgaben auf ihn zukam, aber er kannte das System Volkswagen eben nur vom Hörensagen. Dass Herbert Diess ihn mit allen Freiheiten ausstatten würde, war abgemacht, doch die Fülle der inzwischen fixierten Verantwortlichkeiten reicht locker für drei Vorstandsvorsitzende. Obwohl er mehrfach vorgewarnt war, soll der neue CEO nach dem Wechsel von BMW den einen oder anderen Kulturschock durchlebt haben, denn Audi ist längst träge, satt, entscheidungsschwach und verkörpert schon lange nicht mehr die Quintessenz von Vorsprung durch Technik. Im Gegenteil: die alte Garde hat mehr oder weniger freiwillig hingeworfen, die jungen Wilden sind erschreckend zahm und risikoscheu; selbst das so hoch gelobte Design ist auf dem Weg zur Neuerfindung drauf und dran, sich im Stildschungel zu verfahren.
Hoffnungsträger des VW-Konzerns:
Ein trojanisches Pferd namens Artemis
Im Frühjahr war denn mit Markus Duesmann der sehnlich erwartete Messias angekommen, der über Wasser gehen können muss, dem keine Problematik komplex genug ist, dessen Mentor ihm viel zutraut und noch mehr aufbürdet. Um sich konzernintern zu positionieren, seine Strategie den Top-Managements der wichtigen Marken nahe zu bringen und Audi im Konkurrenzumfeld möglichst nachhaltig neu aufzustellen, wurde ein Deus-ex-machina-Durchmarsch namens Artemis in die Wege geleitet. Die griechische Göttin würde plakativ Schützenhilfe leisten bei der deutlich ambitionierter ausgerichteten Bündelung bekannter Prioritäten vom autonomen Fahren über die Digitalisierung bis zur Elektromobilität. Darüber hinaus ist Artemis auch ein Expresslift für den Vorstandsvorsitzenden und seine engste Entourage, deren Prioritäten an einem neuen Audi-Modell festzumachen sein werden, das Ende 2024 auf den Markt kommt. Wie das Luxusgefährt aussieht, sollen wir nächstes Jahr auf der IAA erfahren, wo Audi eine Landjet-Konzeptstudie im Stil des Prologue Show Car (2014) vorstellen will, die von Insidern als sportlich-elegante Mischung aus Avant und viertürigem Coupé beschrieben wird.
Als Audi und Porsche gemeinsam den Grundstein für jene Elektroarchitektur legten, die jetzt als spontan ausgegliederter Hoffnungsträger-Satellit seine Kreise zieht, war Markus Duesmann von seinem früheren Arbeitgeber gerade frisch freigestellt worden. Er konnte nur von außen beobachten, wie die PPE (Premium Plattform Elektromobilität) Gestalt annahm, von der alternativen MTP (Multi Traktions Plattform) kurz ausgebremst wurde, um dann doch in drei Flach- und Hochboden-Formaten (PPE41/51/61) serienreif gemacht zu werden. Als erster Audi auf PPE-Basis soll Ende 2022 der Q6 e-tron fast zeitgleich mit dem elektrifizierten Macan-Nachfolger an den Start gehen. Der bei Audi solitär von Artemis verantwortete Landjet entsteht im Teamwork mit dem Porsche K1, der allerdings erst 2025 startklar sein dürfte. Als drittes Modell wurde kürzlich der E-LEV von Bentley verabschiedet, dem ein Lamborghini-Derivat folgen könnte. Die Briten planen einen majestätischen CUV mit extragroßem Akku und Verwöhn-Garantie. Für alle drei D-SUV hat der Konzernvorstand das Nutzfahrzeugwerk Hannover als Produktionsstandort auserwählt - ausgerechnet jene Fabrik, die Porsche seinerzeit wegen Qualitätsproblemen für den Cayenne abgelehnt hatte. Die Gewerkschaften und das Land Niedersachsen sagen Danke.
Während Artemis das Laufen lernt, ist der Zug für Audi im Kerngeschäft eigentlich schon abgefahren, denn die Ingolstädter haben die fetten Jahre selbstzufrieden verschlafen und so die essenzielle Technologieführerschaft verspielt. Heute wird allseits gejammert, weil die Marke in keinem einzigen spielentscheidenden Bereich - Fahrerassistenz, autonomes Fahren, konduktives oder induktives Laden, Leistungselektronik, digitale Dienste, Batterietechnik - den Singleframe Grill vorne hat. Es sind allenfalls zugekaufte Pseudo-Innovationen im Bereich Software, MMI, Lichttechnik, AR und VR mit denen Audi vordergründig punktet. Weil der Vorstand ein Jahrzehnt lang jedes Risiko und die entsprechenden Entscheidungen gescheut hat (es wäre alles vorhanden gewesen: Hybride, e-quattro, Leichtbau, Wasserstoff, synthetische Kraftstoffe - die Liste ist beliebig verlängerbar), fehlt heute der kreative Mut und vor allem der finanzielle Spielraum. Gleichzeitig drohen Altlasten wie die teure Abwicklung des Verbrenners, das überdimensionierte Händlernetz und der Wasserkopf einer aus vielen Gründen nicht mehr ausreichend performanten Belegschaft. Nein, kein Audi-spezifisches Problem. Aber wenn der neben Porsche einzige Renditebringer schwächelt, ist das auch eine Gefahr für den Konzern.
Die Auswirkungen dieser Dilemmata bekommt unter anderem Alex Hitzinger zu spüren, der für Artemis verantwortlich zeichnet. Der wie Duesmann im Motorsport vorkonditionierte Passauer kam auf Umwegen über Apple und VW Nutzfahrzeuge zu Audi, wo er sich schwertut mit der Not-Invented-Here-Denke, der immer wieder hochkochenden Blockadehaltung aus Wolfsburg, dem Rekrutieren von Spitzenkräften speziell für die Car.Software.Org, und der Koordination der PPE-Projekthäuser in Ingolstadt und Weissach. Die handelnden Figuren betonen zwar bei jeder Gelegenheit, dass sie sich achten und schätzen. aber der Porsche CEO Oliver Blume besteht in Sachen PPE-Systemführerschaft auf einer adäquaten Aufgabenteilung und auf mit seiner Sportwagenmarke kompatiblen technischen Inhalten, deren erste Priorität nicht immer absolute Effizienz sein kann. In diesem Zusammenhang fehlt nur selten der Hinweis, dass Porsche deutlich schneller, flexibler und progressiver unterwegs ist als der Partner aus dem Süden der Republik, der sich in der dringend nötigen Umstrukturierung zu verzetteln droht.
Artemis muss schnell sein, fokussiert, effizient und vor allem innovativ. Doch wie soll das funktionieren, wenn die flankierende Struktur auf tönernen Füßen steht? So geht es in Hannover nicht nur um einen besonders komplexen Serienanlauf, sondern auch um den Erstaufschlag des Polaris-Systems, mit dem Audi die Gestaltung und Fertigung von Exterieur und Interieur per Fixpunkt-DNA gleichzeitig verschlanken und individualisieren möchte. Das Polaris-Geheimnis ist maximale sichtbare Varianz bei drastisch reduzierter Modul- und Komponentenvielfalt. In Wolfsburg muss sich Artemis gegen VW durchsetzen, wo man ursprünglich schon 2023 mit der nur teilweise hausgemachten Car.Software.Org 1.2 an den Start gehen wollte. Doch Ingolstadt hat sich mit dem Artemis-Konzept durchgesetzt, entwickelt jetzt für 2025 den neuen Digital-Aufschlag 2.0 und hat neben der komplexen Premium-Version auch einen günstigeren Ableger für die Volumenmarken in petto. In Zuffenhausen haben sich Audi, Porsche und Ionity auf ein gemeinsames Schnellladenetzwerk verständigt, das zeitnah die anspruchsvolle Kundschaft mit zusätzlichen Dienstleistungen wie Ladegarantie und mit Komfort-Features wie kabellos-konduktivem Laden verwöhnen soll. Im Detail ist noch unklar, welche Rolle Artemis bei der Batterieentwicklung und Fertigung spielen wird, wie die Aufgabenverteilung zwischen den Premium-Marken aussieht und wo am zweckmäßigsten zu differenzieren ist. So wie die Schwaben neuerdings mit Quantumscape flirten und sich von der angekündigten Zusammenarbeit mit deutschen Start-ups einen kräftigen Know-How-Schub erwarten, so hat auch Audi diverse Eisen im Feuer - bislang freilich ohne eigene Akkuproduktion und ohne fixen Deal in Sachen Feststoff-Batterie-Zulieferer.
Statt den gängigen Pouch- und Prisma-Formaten bevorzugen dem Vernehmen nach auch die Artemis-Vordenker größere Rundzellen mit höherer Energiedichte, intensiverer Kühlung und optimierter Crash-Performance. Für voll konfektionierte kobaltfreie Lithium-Ionen-Zellen werden aus der TE Kosten von rund 80 Dollar pro kWh kolportiert, die Vergleichszahl für die frühestens 2026 verfügbaren Feststoff-Batterien ist klar dreistellig. Die Idee, mit Audi und Bentley sowohl Mercedes/Maybach als auch BMW/Rolls-Royce in die Zange zu nehmen, hat durchaus Charme und regt die Phantasie an. Doch die Umsetzung ist ein Knochenjob, denn Audi muss für Bentley zum Beispiel eigene Steuerungsgremien installieren, die idealerweise als Blaupause für Lamborghini zweitverwertet werden können. In welcher Form sich Artemis da einbringt, ist noch offen, denn eigentlich arbeitet die Hitzinger-Truppe außerhalb des Systems, das seinerseits überholungsbedürftig ist. Statt gewachsene Hierarchien zu pflegen, gelten ab sofort neue Prioritäten wie Anforderungs- und Komplexitätsmanagement, Funktions- und Synergie-Steuerung sowie Prozessoptimierung und Schnittstellenpflege. Aufgaben wie geschaffen für den Marken- und Konzernvorstand, weniger für visionäre Einzelkämpfer.
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