Herr Magno, vor welchen wesentlichen Herausforderungen sehen Sie die Autozulieferer?
Im Jahr 2025 – das ist nur einen Modellzyklus entfernt – werden erstmals mehr Fahrzeuge mit Elektro- statt mit Verbrennungsmotor produziert werden. Viele werden autonom fahren können, Software-Updates "on air" erhalten und Daten zum Beispiel über den Fahrbahnzustand oder das Verkehrsaufkommen sammeln. Diese Daten werden auf neuen Plattformen – vielleicht auch von neuen Anbietern – aggregiert und zur Verfügung gestellt. Zugleich werden Zulieferteile vor allem für den Antriebsstrang in immer geringeren Stückzahlen benötigt.
Zögern wäre jetzt fahrlässig für die Zulieferindustrie. Im Zuge der Elektromobilität und bahnbrechender Zukunftstechnologien muss sich die Branche jetzt selbst auf den Prüfstand stellen. Neue Geschäftsmodelle, veränderte Kundenstrukturen und ein enorm hohes Innovationstempo bedeuten: Die Zulieferer müssen sich verändern, und das schnell. Für die Zulieferer geht es um die blanke Existenz in einem neu strukturierten Markt.
Ist das nicht alarmistisch, warum sollte es für einige Lieferanten denn gleich ums Überleben gehen?
Ein Beispiel für die bevorstehenden Veränderungen: Bremsen und Radlager werden künftig Daten generieren, die von der Fahrwerkssteuerung ausgewertet. Diese Daten geben aber auch Aufschluss über den Zustand der Straßen und können als Verkehrsinformationen verkauft werden – etwa an Plattformen, die den gesamten Bedarf der Konsumenten an Mobilität decken. Die Automobilhersteller möchten sich zu solchen Plattformen weiterentwickeln und wünschen Zugriff auf die Daten. Die Zulieferer haben aber Interesse daran, die Daten direkt zu verkaufen – vielleicht an herstellerunabhängige Plattformen.
Das bedeutet: Der Zulieferer produziert künftig nicht nur Bauteile, Module und Systeme. Er generiert auch Daten über den gesamten Lebenszyklus des Fahrzeugs. Damit verändert sich sein Geschäftsmodell und seine Kundenstruktur. Zu seinen Aufgaben wird es gehören, für den Endkunden relevante Dienstleistungen zu bieten und damit auch Geld zu verdienen.
Wie setzt man solche Dienstleistungen auf, wie findet man erfolgreiche neue Geschäftsmodelle?
Die Antwort: Dazu braucht man nicht nur neue Ideen und Geschäftsbereiche. Denn heute sind alle Prozesse bei den Zulieferern auf Stabilität und Kontinuität ausgerichtet: Null Fehler, Kostenkontrolle und JIT-Lieferung gehören zu den zentralen Anforderungen der Autohersteller.
Eben diese Stabilität verhindert aber die Kreativität, die man benötigt, um erfolgreich neue Prozesse und Geschäftsmodelle für Endkunden oder Plattformen zu entwickeln. Die Unternehmen müssen hier nicht nur umdenken, sondern neue Strukturen etablieren und neue Tugenden pflegen, auch eine neue Fehlerkultur. Plötzlich soll und muss man kreativ sein, etwas ausprobieren, man darf auch scheitern, daraus lernen und neu beginnen.
Zugleich muss natürlich das alte Geschäftsmodell mit unverminderter Stabilität weiterlaufen. Kurz gesagt: Der Zulieferer muss jetzt so effizient sein wie Toyota und so innovativ und disruptiv wie ein Start-up. Diesen Spagat zu managen – das ist momentan die Aufgabe.
So mag die Aufgabenstellung in der Theorie lauten. Wie aber soll sie der Zulieferer in die Praxis umsetzen?
Das Thema ist Gegenstand der strategischen Unternehmensentwicklung und gehört auf die Vorstandsagenda. Wenn alle Beteiligten die Dringlichkeit der Veränderung verstanden haben, sind aus unserer Sicht drei Handlungsfelder zu bearbeiten. Das erste: Der Zulieferer braucht eine Unternehmensstrategie, die an die neuen Bedingungen angepasst ist.
Ein gutes Werkzeug zur Erarbeitung dieser Strategie ist das von den Harvard-Professoren Norton und Kaplan entwickelte Strategy Deployment. Mit Balanced Scorecard-Methodik lässt sich eine Logik für die Unternehmensentwicklung ableiten, die von der Strategie in die einzelnen Handlungsfelder führt. Dabei kann man sehr gut die genannten und teils gegensätzlichen Faktoren abbilden – auf der einen Seite Qualität, Kosten und Lieferservice, auf der anderen Innovation, Risiko und Start-up-Mentalität.
Wo liegt das nächste Handlungsfeld?
Zweitens muss jeder Zulieferer in der aktuellen Situation seine Innovationskraft nicht nur auf der Produktebene beschleunigen. Ebenso nötig sind Prozessinnovationen und neue Geschäftsmodelle. Dafür braucht man eine neue Innovationslogik – mit Freiräumen für die Mitarbeiter und mit der Möglichkeit zu scheitern.
Das erfordert neue Arbeitsmethoden wie Scrum (Englisch für "Gedränge", Werkzeug zur Beschleunigung von Entwicklungsprojekten; Anm. d. Red.), Design Thinking (Englisch für "Denken in Design", Ansatz zur Problemlösung aus Sicht der späteren Anwender; Anm. d. Red.) und Hackathon (englisches Kompositum aus "Hack" und "Marathon", Event für kompetenzübergreifende Softwarekonzeption; Anm. d. Red.). Außerdem greifen die bekannten Kennzahlen und Kontrollinstrumente zu kurz. Neben Umsatz und EBIT muss die Innovationskraft zur Führungsgröße werden.
Und Nummer drei auf der Agenda?
Das dritte Handlungsfeld betrifft die Geschwindigkeit. Die beschriebenen Veränderungen werden schnell kommen, und sie werden radikal sein. Plakativ gesagt: Alles was elektrifiziert werden kann, wird auch elektrifiziert. Alles was digitalisiert werden kann, wird auch digitalisiert. Das gilt für die Autos und ebenso – Stichwort Industrie 4.0 – für die Produktion.
Der Zulieferer muss sich schneller als bisher an neue Markt- und Technologieentwicklungen anpassen und sich zu einer Hochleistungsorganisation entwickeln, in der nicht primär die Genauigkeit, sondern die Agilität über den Erfolg entscheidet.
Wie viel Zeit bleibt den Zulieferern aus Ihrer Sicht noch für das Nehmen all dieser Hürden?
Bereits in wenigen Jahren werden die Zulieferer nicht nur für die OEMs oder die „X-Tier“ in der Zulieferkette arbeiten. Sie werden andere Kunden haben, zum Beispiel die Plattformbetreiber, sie werden Daten generieren und verkaufen, und sie werden auch den Endkunden der Automobilindustrie einen Mehrwert bieten. Wer sich darauf nicht vorbereitet und entsprechende Geschäftsmodelle und Angebote erarbeitet, der läuft Gefahr, seine Position in der Wertschöpfungskette der Automobilindustrie zu verlieren.
Und die Entwicklung in den einzelnen Innovationsfeldern wie Autonomes Fahren, Sharing Economy und Konnektivität zeigt: Neue Marktteilnehmer und Wettbewerber sind schon auf dem Plan. Sie kommen zum Beispiel aus dem Silicon Valley, sie sind finanzkräftig und sehr schnell im Umsetzen neuer Geschäftsmodelle.
Ihr erster Rat für Zulieferer, die jetzt einsteigen in die entsprechende Planung?
Dabei sollte jedes Unternehmen genau prüfen, wie es vorgeht. Nicht jeder Metallverarbeiter muss ein Innovation Lab in Barcelona oder Bologna gründen. Vielleicht ist eine Partnerschaft oder ein Projekt mit einem Start-up sinnvoller. Solche Fragen werden im Strategy Deployment untersucht.
Parallel dazu sollte jeder Zulieferer Ideen entwickeln, querdenken, Kreativität freisetzen, neue Geschäftsmodelle erarbeiten und das Ganze in Pilotprojekten ausprobieren.
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