Seit 2020 berät der Nationale Wasserstoffrat der Bundesregierung die politischen Entscheidungsträger zum Ökosystem Wasserstoffwirtschaft. Ehrenamtliche Vorsitzende des mit 25 Personen besetzten Gremiums ist die Vorstandschefin der Westenergie AG, Katherina Reiche.
Frau Reiche, das mit Wasserstoff betriebene Brennstoffzellenfahrzeug landete zuletzt arg in der Nische – weil das batterieelektrische Auto immer besser wird und weil grüner Wasserstoff noch sehr kostspielig ist. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine scheint jetzt aber neuer Schwung in das Thema Wasserstoff-Kreislaufwirtschaft zu kommen.
Ich teile Ihre Einschätzung, dass Deutschland bei der Umsetzung der Pläne für ein H2-Startnetz schneller sein könnte. Der brutale Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine verändert nun aber grundlegend unsere Energiepolitik. Und dabei spielt eine funktionierende Wasserstoffwirtschaft eine wichtige Rolle. Die Diskussion über eine Energieversorgung mit einer geringeren Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen hat durch diesen furchtbaren Krieg enorm an Fahrt gewonnen. Das beflügelt auch die Pläne vieler hervorragender Unternehmen in Deutschland, die verstärkt in die Wasserstoffwirtschaft investieren wollen.
Auch in wohlwollenden Szenarien für die künftige Energie-Landschaft nimmt der Bereich Wasserstoff allerdings nur einen sehr kleinen Teil ein. Warum ist das dennoch wichtig?
Der Ukraine-Krieg und seine Folgen zeigen sehr deutlich, dass es fatal ist, sich in der Energieversorgung auf ein oder wenige Länder verlassen zu müssen. Die Abhängigkeiten sind enorm und führen auch geostrategisch zu schwierigen Situationen. Ich sehe aber, dass nicht nur die Politik das Thema Wasserstoff vor dem Hintergrund politischer Resilienz neu bewertet, sondern auch viele Unternehmen aus einer wirtschaftlichen Logik heraus. Sie wollen ihre Abhängigkeiten mindern, ihre Energiequellen diversifizieren und zugleich einen großen Schritt in Richtung nachhaltige Produktion machen. Dafür ist grün erzeugter Wasserstoff geradezu prädestiniert.
Welche Rolle spielt die russische Gas-Politik? Die Gaslieferungen an den Westen sind in diesem Krieg ja offensichtlich zu einem politischen Druckmittel geworden.
Russland übt mit seinen Gaslieferungen massiven Druck auf die EU aus. Die Gaspreise sind auch dadurch deutlich gestiegen. Kostete vor ein paar Jahren Erdgas noch zwischen 20 bis 30 Euro pro Megawattstunde, so liegen wir heute bei 80 bis 100 Euro pro Megawattstunde. Im Sinne der Diversifizierung soll darüber hinaus Pipeline-Erdgas nun verstärkt durch Flüssiggasimporte ersetzt werden. Wasserstoff konkurriert jetzt deshalb also nicht mehr mit günstigem Pipeline-Erdgas, sondern mit kostspieligerem Flüssiggas.
Rechnen Sie demnächst sogar mit einem Preis-Gleichstand? Und was würde das bedeuten?
Jeder fossile Brennstoff wird mittel- und langfristig auch unabhängig von spekulativen Preiserhöhungen deutlich teurer – und zwar wegen der steigenden CO2-Bepreisung. CO2-Zertifikate sind jetzt schon erheblich teurer geworden als noch vor wenigen Monaten. In Deutschland und einigen anderen Ländern wird zudem zusätzlich ein nationaler CO2-Preis erhoben, der weiter steigen wird, bis 2025 auf 55 Euro pro Tonne. Ein CO2-Preis von 200 Euro pro Tonne klingt sehr hoch, ist aber keineswegs mehr unrealistisch. Da braucht es wirklich nicht mehr viel, um auf einen Preisgleichstand mit grünem Wasserstoff zu kommen. Wir rechneten bisher damit, dass dieser Gleichstand Anfang der 2030er-Jahre erreicht wird. Angesichts der jüngsten Entwicklung dürfte dies aber weit früher geschehen. In der Preisparität spielen aber noch viele andere Faktoren eine Rolle, sodass eine exakte Prognose schwierig ist.
Die Preise sind aber nur eine Seite dieses Markts. Ist denn genügend grüner Wasserstoff verfügbar?
Nein, die notwendigen Quantitäten sind heute noch nicht erhältlich. Nach aktuellen Studien soll Deutschlands Bedarf an Wasserstoff und seinen Derivaten bis 2050 auf bis zu 800 Terawattstunden im Jahr steigen. Heute liegen wir bei 57 Terawattstunden, das sind 1,7 Millionen Tonnen. Deshalb ist der Aufbau einer dem Bedarf angepassten Produktion von grünem Wasserstoff so wichtig. Und da geschieht eine ganze Menge. Es gibt zahlreiche Initiativen und Projekte.
Die Wasserstoff-Elektrolyse beruht auf Strom, möglichst grünem Strom. Lohnt sich das überhaupt in Deutschland?
Tatsächlich sind die Stromkosten in Deutschland neben denen in Dänemark die höchsten in ganz Europa. Dadurch ist die Elektrolyse derzeit praktisch prohibitiv kostspielig. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat dieses Problem aber erkannt und will die EEG-Umlage für Elektrolyse streichen. Das wäre schon mal ein wichtiger Schritt. Wichtig wäre auch, die Energiesteuer und die Mehrwertsteuer auf Strom abzusenken. Studien gehen davon aus, dass die Elektrolysekosten in Deutschland bis Anfang der 2030er-Jahre halbiert werden können.
Falls das gelingen sollte, wird grüner Strom aus Deutschland aber dennoch nicht ausreichen, um die enormen Mengen an grünem Wasserstoff zu erzeugen, die bei einer H2-Kreislaufwirtschaft nötig sind.
Ja, ohne Elektrolyse in sonnen- und windreichen Regionen im Ausland werden wir das nicht schaffen. Pläne dafür entstehen bereits. So eignen sich zum Beispiel Flächen in Saudi-Arabien, in Chile oder in Australien gut, da sie sowohl viel Sonne als auch viel Wind aufweisen.
Sie sprechen von einem H2-Startnetz für Deutschland. Was verstehen Sie darunter?
Schon die alte Bundesregierung hat dieses Konzept entwickelt. Die Idee ist, Wasserstoff über eine beresits bestehende Infrastruktur zugänglich zu machen – entlang erster großer Korridore, um die großen Abnehmer von Wasserstoff miteinander zu verbinden. Die Struktur ähnelt grob gesagt einem großen H quer und längs durch Deutschland, und sie greift größtenteils auf vorhandene Infrastruktur zu. Von der Nordsee ins Ruhrgebiet bis nach Köln, dann quer durch Niedersachsen bis zum Chemiedreieck Halle-Leuna-Leipzig. Es zeigt, dass die Bundesregierung von Anfang an im Blick hatte, die gesamte H2-Wertschöpfungskette abzudecken.
Was sind die zentralen Elemente dieses Netzes?
An erster Stelle stehen die Elektrolyseure für die Erzeugung von grünem Wasserstoff mittels erneuerbarer Energie, Onshore und Offshore. Dann die Verteilung von Wasserstoff und die Schaffung eines funktionierenden Markts. Für all diese Wertschöpfungsstufen haben wir in Deutschland ein weltweit führendes Know-how. Eine umfassende Wasserstoffwirtschaft kann künftig eine ökonomische Rolle in Deutschland spielen, vergleichbar mit der Windkraft-Branche.
Wo sehen Sie hier Wettbewerbsvorteile für Deutschland?
Deutschland hat bei den verschiedenen Wasserstoff-Technologien eine sehr gute Ausgangsposition. Wir haben hervorragende Ingenieure, herausragende Forschungseinrichtungen wie etwa die Fraunhofer-Institute, und wir haben eine sehr innovationsstarke mittelständisch geprägte Industrielandschaft, die die Forschungsergebnisse in konkrete Produkte auch umsetzen kann. So war ich jüngst bei der Faun-Gruppe in Osterholz, die sehr erfolgreich Müllfahrzeuge mit einem modular aufgebauten Brennstoffzellenantrieb anbietet.
Welche Position hat der Rat generell in Bezug auf den Wasserstoff-Einsatz in Fahrzeugen?
Wir sehen sinnvolle und realistische Chancen für Wasserstofffahrzeuge auf Basis von Brennstoffzellen im Bereich schwerer Nutzfahrzeuge und bei ausgesprochenen Langstrecken-Einsätzen. Schwere Lkw mit sehr vielen schweren Batterien vollzupacken, erscheint uns keine überzeugende Lösung zu sein. Grundsätzlich sind Einsatzszenarien in größeren Flotten vielversprechend, etwa in Kommunen, in Logistik- oder bei Busunternehmen. Hinzu kommen im Mobilitätssektor spannende Einsatzszenarien im Schienenverkehr und in der Binnen- und Hochseeschifffahrt. Bei der Deutschen Bahn sind etwa 40 Prozent der Strecken noch nicht elektrifiziert, und die Diesellokomotiven sind häufig große Spritfresser. Das ist eines von vielen Feldern, die auch für den Export spannend werden können.
Das Interview führte Michael Knauer.
Dieser Artikel stammt aus dem Sonderheft Generation E. Wenn Sie mehr lesen wollen, klicken Sie hier.
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Anzahl von Brennstoffzellen- und E-Fahrzeugen und Tank-/Ladestationen 2021 und 2022