München. Indien zählt heute zu den am schnellsten wachsenden Automobilmärkten weltweit. In den vergangenen Jahren etablierten sich dort alle namhaften Automobilhersteller. Dadurch hat sich das Land mittlerweile zu einem international bedeutenden Zukunftsmarkt entwickelt. Doch gerade das starke Wachstum der Automobilproduktion in Indien, die sich bis 2010 von derzeit 2,2 auf voraussichtlich 4,4 Millionen Stück verdoppeln wird, stellt das Land vor besondere Herausforderungen. Dem zunehmenden Verkehrsaufkommen setzt die indische Regierung immer schärfere Abgasnormen entgegen, die dem europäischen Vorbild folgen. Für deutsche Autohersteller und Zulieferer ist Indien ein attraktiver Markt, da deutsche Produkte in Indien hohes Ansehen genießen.
Nach Angaben des VDA sind deshalb auch die Investitionen der deutschen Automobilindustrie in Indien in den vergangenen Jahren stark angestiegen: Die Zahl der Fertigungsbetriebe deutscher Unternehmen erhöhte sich in den letzten zehn Jahren von 34 auf über 60. Allein zehn große deutsche Zulieferer beschäftigten im Jahr 2007 in Indien mehr als 25.000 Mitarbeiter. Doch auch indische Unternehmen strecken ihre Fühler verstärkt nach Europa aus, da es in Indien nur wenige Zulieferer gibt, die aus eigener Kraft die notwendigen Entwicklungssprünge realisieren können. Hilfe bietet hier das Forum Indien an, das unter anderem Joint Ventures und Akquisitionen europäischer und indischer Unternehmen begleitet. „Vor allem in den Bereichen Technologie, Qualität und Logistik besteht Nachholbedarf“, erklärt Dirk Meyer, Managing Partner im Forum Indien.
Viele indische Zulieferer pflegen bereits Partnerschaften mit internationalen Unternehmen, so Meyer. Der Indien-Fachmann ist der Meinung, dass Unternehmen, die einen Jahresumsatz von mehr als 50 Millionen Dollar erreichen, über die finanziellen Ressourcen verfügen, um in Europa auf Einkaufstour zu gehen. Das würde aktuell auf 40 der 528 Mitglieder des indischen Zuliefererverbands ACMA zutreffen. Indiens Autozulieferer hoffen, im Jahr 2014 rund 28 Milliarden Euro umzusetzen, zwei Drittel davon im Ausland. „Die neuen Kooperationen indischer Hersteller mit europäischen Partnern bedeuten auch in umgekehrter Richtung einen qualitativen Schritt nach vorn für die indische Industrie“, hieß es beim Verband der Automobilindustrie (VDA) im Januar auf der Auto Expo in Neu-Delhi.
Allein in den ersten drei Quartalen des Jahres 2007 wurden von Indien nach Deutschland Pkw im Wert von 25 Millionen Euro exportiert. Die Zulieferindustrie in Indien steigerte ihre Ausfuhren nach Deutschland in den ersten neun Monaten 2007 um 20 Prozent auf 140 Millionen Euro. „Es gibt unserer Erfahrung nach kaum ein Unternehmen, das nicht auf der Suche nach Partnern oder einem Übernahmekandidaten wäre“, unterstreicht Meyer vom Forum Indien. Im Fokus stehen dabei meist deutsche Mittelstands-Familienbetriebe mit modernsten Entwicklungskapazitäten und überwiegend namhaften Kunden der Branche, die oftmals ohne Nachfolger in der Geschäftsführung sind. Besonders attraktiv erscheinen den indischen Unternehmen dabei Betriebe, die über ein spezielles Know-how verfügen, das in Indien derzeit nur unzureichend oder gar nicht verfügbar ist. Dazu zählen unter anderem Kompetenzen auf dem Gebiet der Sicherheitstechnik und der Fahrzeugelektronik. Die Strategie hinter den Expansionsplänen: Neben dem Technologietransfer möchten die indischen Zulieferer auch Zugang zu europäischen Märkten und Kunden bekommen. Die Engagements sind deshalb in der Regel langfristig ausgelegt, ist sich Meyer sicher.
Eine schnelle Produktionsverlagerung nach Indien oder gar die Zerschlagung von aufgekauften Firmen gehören nicht zu den Ambitionen der indischen Gesellschaften. Vielmehr geht es um den Aufbau von Synergien, um letztlich auch auf dem Heimatmarkt und in dem dortigen Konkurrenzumfeld bestehen zu können. Schließlich drängen verstärkt internationale Autobauer auf den Subkontinent. Auch die Gefahr eines unerwünschten Technologietransfers, wie er zwischen China und Europa teilweise stattfindet, sehen Indien- Experten nicht: Die Dreistigkeit, mit der China geistiges Eigentum teilweise missachtet, gebe es in Indien so nicht, heißt es. Zu den bekanntesten deutschen Zulieferern auf dem Subkontinent zählen Behr, Bosch, Continental und Freudenberg. Die meisten haben Niederlassungen in Delhi, Pune und Bangalore/Chennai, den großen Zentren der indischen Automobilindustrie. Laut dem indischen Branchenverband ACMA gibt es inzwischen nur noch sehr wenige Komponenten, die in Indien nicht ebenso gut wie in Europa oder Amerika gefertigt werden können. Allerdings sei die Produktion in Indien laut ACMA etwa 30 bis 40 Prozent billiger.
Bosch, einer der Zulieferer-Pioniere auf dem Subkontinent, sieht äußerst zuversichtlich in die Zukunft. Schon jetzt beträgt der Umsatz der indischen Bosch-Gesellschaften einschließlich aller Exporte nahezu eine Milliarde Euro. „Die Wachstumsdynamik Indiens spiegelt sich deutlich in unserer Geschäftsentwicklung wider“, freut sich Bosch-Geschäftsführer Bernd Bohr. Auch bei den Mitarbeiterzahlen zeigt der Trend nach oben: 2008 beschäftigt die Bosch-Gruppe in Indien rund 18.000 Mitarbeiter – circa zehn Prozent mehr als im Vorjahr. „Wir begleiten das starke Wirtschaftswachstum und die zunehmende Motorisierung Indiens mit dem Ausbau von Entwicklung und Fertigung vor Ort“, erläutert Bohr. Bis 2010 will der deutsche Konzern mindestens 495 Millionen Euro in Indien investieren. Neben dem Ausbau seiner Dieselkomponenten-Fertigung hat Bosch auch in die Produktion von Teilen für Benzinsysteme investiert. Zusätzlich soll Ende 2008 eine ABS-Fertigung anlaufen. Der Produktionsstart für elektronische Steuergeräte ist für 2009 geplant.
Bosch-Wettbewerber Continental eröffnete erst im Juli ein neues Forschung- und Entwicklungszentrum sowie eine Produktionsanlage für elektronische Bauteile in der Nähe von Bangalore. „Den Prognosen zufolge wird im Segment der sogenannten ,Affordable Cars‘, also den preisgünstigen Autos, ab 2012 weltweit fast jedes zweite Auto in Asien hergestellt“, erklärte Continentals Asien-Chef Jay Kunkel jüngst. Durch die strengen indischen Abgasnormen und Sicherheitsbestimmungen erhofft sich Continental in Indien steigende Absätze bei elektronischen Bauteilen. Außerdem möchte der deutsche Zulieferer bis 2015 ein Viertel seines Gesamtumsatzes in Asien erwirtschaften und strebt ein Jahreswachstum von 60 Prozent bis zum Jahr 2012 an.
Eine Umfrage unter den VDA-Mitgliedsunternehmen Anfang des Jahres ergab, dass fast alle planen, künftig verstärkt in Indien einzukaufen. Ein zwischen Indien und der Europäischen Union angestrebtes Freihandelsabkommen würde den Handel weiter fördern und erhöhen, so der Verband. Chancen haben indische Zulieferer wohl aber nur, wenn sie die technologischen und finanziellen Ressourcen aufbringen, um sich den Anforderungen der Autohersteller oder Mega-Zulieferern anzupassen. Indien-Experten gehen davon aus, dass die Modellvielfalt und die immer kürzer werdenden Modellzyklen hohe Ansprüche an Lieferfähigkeit und Qualitätsniveau der indischen Zulieferer stellen werden.