Herr Fries, Herr Wiendahl, vor gut 100 Jahren revolutionierte Henry Ford mit dem Fließband die Autoproduktion. Wird es das Fließband in Zukunft noch geben?
Hans-Hermann Wiendahl: Wir sehen den Trend, dass die Automobilisten ihre Montagelinien als Ordnungsprinzip kritisch hinterfragen. Ich glaube aber, dass es weiterhin auch Fließbänder geben wird, wenn auch nicht überall. Das hängt immer davon ab, wie viele Varianten ein Automobilhersteller anbietet. Bei relativ wenig Varianten bleibt das Fließband weiter das überlegene Produktionsprinzip.
Christian Fries: Die Ablösung des Fließbandes wird schon seit einigen Jahren als der goldene Weg postuliert. Audi hat damit angefangen, das Fließband durch Fahrerlose Transportfahrzeuge zu ersetzen und die Stationen als sogenannte Montageinseln strukturiert. Auch Daimler hat jetzt mit der Factory 56 das Fließband in Teilen aufgelöst und damit Flexibilität in den Montageablauf gebracht. Aber die Frage, für welchen Anwendungsfall welcher Ansatz der beste ist, ist nach meiner Einschätzung objektiv noch unbeantwortet.
Einige Hersteller setzen darauf, die Produktion zu verschlanken, indem sie auch klassische Extras wie eine Sitzheizung als Function on Demand anbieten. Im Werk wird dann standardmäßig alles verbaut und bei Bedarf gegen Entgelt freigeschaltet.
Fries: Ich glaube nicht, dass sich das durchsetzen wird. Ein Automobilhersteller wird es auf Dauer nicht durchhalten können, nicht direkt gewünschte Komponenten zu verbauen. Nicht nur wegen der Kosten: Jede Komponente erhöht das Gewicht des Fahrzeugs und erhöht somit den Verbrauch, verursacht CO2 und könnte am Ende zu Strafzahlungen führen.
Die Elektromobilität sorgt derzeit für einen gewaltigen Umbruch. Welche Auswirkungen hat das auf die Produktion?
Fries: Die Auswirkungen auf die reine Endmontage sind eher gering, zumindest beim kompletten Wechsel vom Verbrenner zum Elektroantrieb. Viel spannender wird die Übergangszeit sein, wenn beide Antriebe parallel laufen. Aus wirtschaftlichen Gründen werden Hersteller eine Produktionslinie für beide Antriebskonzepte verwenden wollen. Meiner Einschätzung nach liegt genau in diesem Anwendungsfall eine der Stärken der Matrixmontage, also der Auflösung von Band und Takt. Vielleicht muss hier auch eine Mischform zwischen klassischem Fließband und Matrixmontage diskutiert werden.
Just-in-time-Anlieferung galt bisher als Königsweg, um die Lager im Werk klein zu halten. Muss die Branche angesichts der Lieferengpässe nun umdenken?
Wiendahl: Die Bedeutung von Just-in-Time wird deutlich überschätzt. Viele Unbefangene vermuten, dass in der Automobilendmontage der Anteilder Just-in-time-Lieferung überwiegt, deutlich über 60 Prozent liegt. Dem ist aber bei weitem nicht so, in Wirklichkeit ist der Anteil signifikant niedriger. Außerdem ist diese Versorgungsstrategie deutlich anspruchsvoller hinsichtlich Koordinationsaufwand und Abwicklung, als alle anderen Versorgungsstrategien. Viele OEM versuchen also, diese Aufwände zu vermeiden.
Fries: Just in time reduziert Bestände oft nur auf den ersten Blick, da die Bestände oft nicht wirklich reduziert werden. Sie werden häufig nur an Lieferanten beispielsweise in sogenannte Konsignationsläger ausgelagert.
Wieso wird dann überhaupt noch auf just in time gesetzt?
Wiendahl: Insbesondere für kundenindividuelle und voluminöse Komponenten ist Just-in-Time nach wie vor sinnvoll. Außerdem ist zu beachten, dass bei vielen Werken die Flächen knapp sind: Das erzeugt Restriktionen, die man beachten muss: Will man dann auf gleicher Fläche die Produktion ausweiten, bleiben nur die beiden Optionen "Reduzierung der Fertigungstiefe im Hauptwerk" oder "Bestandsreduzierung von Komponenten".
Ändert sich das jetzt durch die Halbleiterkrise?
Fries: Ich denke, dass die Automobilhersteller künftig genauer hinsehen werden, was die kritischen Komponenten sind, und dann dort gezielt Bestände aufbauen und teilweise auch selbst verwalten. Wichtig ist auch das Stichwort Resilienz: Krisenstrategien sind notwendig, um Verluste zu reduzieren und beim Eintreten einer Krise schnell zu reagieren. Hier werden die Automobilhersteller deutlich mehr Aufwand in die Prognose stecken. Also nicht nur in die klassische Bedarfsprognose, sondern vielmehr auch in die Vorhersage neuer Krisen und Engpässe. Es liegt ihnen natürlich daran, den nächsten Engpass im Voraus zu erkennen und rechtzeitig Maßnahmen ergreifen zu können, damit sich die aktuelle Halbleiterkrise nicht so oder so ähnlich wiederholt.
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