Polestar-Chef Thomas Ingenlath: Software verändert, wie ein Auto sich anfühlt

Thomas Ingenlath, der Chef von Polestar, sieht in der Umstellung auf softwaredefinierte Fahrzeuge ein "erstaunliches Innovationspotenzial und eine enorme Kraft". "Es ist nicht nur ein Modewort", sagte Ingenlath über den Begriff Software-defined Vehicle (SDV). "Er spiegelt die enorme Bedeutung wider, die Software heute hat. Es geht nicht mehr nur um die offensichtlichen Bereiche wie Konnektivität", sagte Ingenlath der Automobilwoche-Schwester Automotive News Europe. 
 
Das Software-definierte Fahrzeug ist zum Trendthema der Autoindustrie geworden. Ein Beweis dafür wurde im Juni erbracht, als Audi einen Vorstandsposten speziell für SDVs eingerichtet hat.

Der Hersteller hat Geoffrey Bouquot vom französischen Zulieferer Valeo als Vorstand für Innovation und SDVs eingestellt und damit die "zentrale Rolle" von Software bei dem Automobilhersteller unterstrichen, sagte Aufsichtsratschef Manfred Döss in einer Erklärung.

Der Begriff SDV beschreibt ein Fahrzeug mit leicht aktualisierbaren Computerprogrammen, die seinen Fähigkeiten zugrunde liegen. Das bedeutet, dass neue und verbesserte Funktionen fast sofort installiert werden können. Dank Updates over-the-air ist dafür oft nicht einmal mehr ein Werkstattbesuch nötig. Schnelle Verbesserungen zu erzielen, ist jedoch eine große Herausforderung.

"Die Komplexität, mit der jedes einzelne System miteinander kommuniziert und in das große Gehirn des Autos integriert ist, ist enorm", so Ingenlath. Der große Geländewagen Polestar 3 teilt sich seine Plattform und eine Produktionsstätte in den USA mit dem EX90 der Schwestermarke Volvo. Als Softwareprobleme den EX90 zum Stillstand brachten, verzögerte sich auch das Debüt des Polestar 3. Die Modelle sind zwei Jahre im Verzug.
 

Mit dem Polestar 3 in seinem Verkaufsmix neben der bekannten Mittelklasse-Limousine Polestar 2 wollte der Automobilhersteller im Jahr 2023 eigentlich 124.000 Fahrzeuge absetzen. Stattdessen wurden nur 54.600 verkauft. Als Ein-Modell-Marke hat das Unternehmen auch finanziell zu kämpfen.
 
Die Auslieferungen des Polestar 3 in Deutschland begannen im Juli, während der Polestar 4 im August und September an die Kunden ausgeliefert wird, teilte das Unternehmen mit. In den USA begann die Auslieferung des Polestar 3 im Juni, der Polestar 4 soll im November folgen.

Verzögerungen bei der Markteinführung aufgrund von Softwareproblemen sind frustrierend, aber es steht noch mehr auf dem Spiel, wenn bei der Auslieferung des Fahrzeugs etwas schiefgeht. "Jeder einzelne Fehler sollte nicht passieren", sagte Ingenlath. "Der schlimmste Fall für ein Mobiltelefon ist, dass es abstürzt. Der schlimmste Fall für ein Auto [wenn Software versagt] ist, dass jemand verletzt oder getötet wird. Aus diesem Grund muss man bei der Entwicklung von Software für ein Auto wirklich sicher sein, dass das, was man dort tut, niemandem schadet."

In der Vergangenheit wurden Fahrzeugfunktionen durch Hardware und Mechanik gesteuert, nicht durch Software und Computer. Aber das ändert sich, sagte ZF-Vorstandsmitglied Peter Holdmann."Die größte Herausforderung für jeden Ingenieur, der an diesem Wandel beteiligt ist, besteht darin, zu akzeptieren, dass in Zukunft die Software an erster Stelle steht", sagte er der Autmobilwoche-Schwester Automotive News Europe.

"Das ist eine große Veränderung, denn jahrelang haben wir zuerst die Hardware entwickelt und dann die Software darauf angewendet. Jetzt machen wir es genau andersherum. Man beginnt mit der Definition der Software und stellt sicher, dass sie hardwareunabhängig ist. Das bedeutet, dass die DNA der Fahrdynamik eines Autos durch Software definiert wird."

Das ist ein entscheidender Wandel. "Wenn man ein Auto mit einer Software fährt, kann es sich wie ein sehr früher Prototyp anfühlen, aber mit einer anderen Software auf demselben Auto kann es sich völlig anders anfühlen", sagte Polestar-Chef Ingenlath. "Die Software verändert das physikalische Verhalten eines Autos: wie es fährt, beschleunigt, bremst und lenkt."

Ein weiterer wichtiger Bereich, in dem Ingenlath eine führende Rolle der Software sieht, ist die Steuerung des Antriebsstrangs und der Batterien in Elektrofahrzeugen wie dem Polestar 2, 3 und 4. Er sagte: "Das ist ein Bereich, in dem es ein erstaunliches Innovationspotenzial und eine große Kraft gibt."