Ineos Automotive: Wie Lynn Calder die nächste Stufe zünden will

Wenn in diesen Tagen die Fußballspiele der Europameisterschaft übertragen werden, dann wird das Publikum nicht nur Werbung von VW oder Coca Cola zu sehen bekommen, sondern für den Geländewagen Ineos Grenadier. Rund 400 Millionen Menschen sollen damit in den nächsten Wochen auf verschiedenen Kanälen weltweit erreicht werden.

Dahinter steckt die Erkenntnis, dass begeisterte Erstkäufer nicht ausreichen, um einer Marke langfristigen Erfolg zu garantieren. „Bisher wurden nur die Early Adopters bedient, für eine Werbekampagne war einfach keine Zeit“, sagt Ineos-Automotive-Chefin Lynn Calder im Gespräch mit der Automobilwoche.

Nachdem Fans des Geländewagens in vielen Märkten von Europa über USA, Australien und Südafrika ihre Fahrzeuge erhalten haben, sollen nun die Life-Style-Kunden adressiert werden. Angesprochen dürfen sich vor allem urbane Besserverdiener fühlen, die am Wochenende gerne die Mountainbikes oder Surfbretter einpacken, um in der Natur aktiv zu werden.

Mit der Kampagne zündet Calder die nächste Stufe der Wachstumsstrategie. 20.000 Bestellungen hatte der britische Start-up-Autobauer für sein Modell Grenadier schon vor der Markteinführung im vergangenen Jahr erhalten. Diese Bestellungen seien nun weitgehend ausgeliefert, jetzt müsse die Bekanntheit der Marke gesteigert werden.

„Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass der Geländewagen Grenadier in Verbindung mit dem Namen Ineos noch nicht geläufig ist“, sagt Calder. Das soll sich nun ändern.

Den Schub kann Ineos gebrauchen. So sollen in diesem Jahr in der Fabrik im französischen Hambach rund 30.000 Fahrzeuge produziert werden, etwa doppelt so viele wie im vergangenen Jahr.  Die Zahl der tatsächlichen Verkäufe verrät Calder nicht.

Sie dürfte aber um einige Tausend Stück niedriger sein, da die Auslieferung in Märkte wie Australien oder Südafrika eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt. In Deutschland sind die Zahlen noch relativ bescheiden. Hier werden aktuell etwa 50 Grenadier pro Monat zugelassen, von Januar bis Mai waren es laut Kraftfahrtbundesamt (KBA) exakt 248.

Calder ist dennoch zufrieden mit dem Hochlauf, schließlich sei der Grenadier ein Nischenprodukt. Verkauft wird er bereits in 50 Märkten. Außerdem sei der Monat November 2023 erstmals profitabel gewesen. Vor allem in den USA kommt der kantige Offroader gut an.

Nach Angaben des Datendienstleisters Marklines wurden vom Grenadier allein im Mai 573 Einheiten in den USA gekauft. Seit Jahresbeginn waren es 3121. Schon jetzt zählt dort ein Großteil der Käufer zur Life-Style-Fraktion, die nicht nur ein reines Arbeitsgerät wollen, sondern mit dem Fahrzeug auch die Einkäufe im Supermarkt erledigen möchten.

In diesem Jahr soll der erste Grenadier zudem in China ankommen. Dort befinde sich das Unternehmen aktuell in Gesprächen mit Händlern. Dabei beobachtet Calder die Diskussionen um mögliche Strafzölle der EU für chinesische Elektroautos ganz genau.

Denn die von China angekündigte Antwort könnte eine höhere Besteuerung von großen Benzinmotoren sein, die nicht nur die deutschen Premiumhersteller, sondern auch den Grenadier treffen könnten.

Danach sollen weitere Modelle auf den Markt kommen, um Ineos als europäischen Hersteller etablieren zu können. Bereits fest steht, dass 2027 ein kleiner Bruder des Grenadier Premiere feiern soll. Der bereits vorgestellte Fusilier soll noch stärker das Life-Style-Segment bedienen und einen umweltfreundlichen Antrieb bekommen.

Dabei setzt Calder aber nicht nur auf einen rein elektrischen Antrieb, sondern auch auf die Kombination von Batterie mit einem Range Extender. Dies bedeutet, dass das Fahrzeug auch einen kleinen Verbrennungsmotor an Bord hat, der im Zweifel übernimmt oder die Batterie wieder aufladen kann.

Der Range-Extender soll gegenüber der rein elektrischen Version sogar Priorität erhalten. „Wir brauchen eine deutlich kleine Batterie beim Range Extender, was erheblich Kosten spart und die Menge problematischer Materialien reduziert“, nennt Calder die Vorteile.

Außerdem ließe sich so die Reichweitenangst beseitigen, die vor allem in entlegenen Gebieten etwa in Australien oder Südafrika gegeben sei. "Mit dem Range Extender können wir die Reichweite verdoppeln bei gleichzeitiger Reduktion der CO2-Emissionen um 70 bis 80 Prozent."

Der Fusilier soll komplett vom Auftragsfertiger Magna in Österreich produziert werden. Ein Großteil des Fahrzeugs wird auch dort entwickelt. Nachdem Grenadier sei das noch junge Unternehmen nicht in der Lage gewesen, einen zweiten Produktionsanlauf in so kurzer Zeit zu stemmen, begründet Calder den Schritt.

Das vierte Modell nach Grenadier, dem davon abgeleiteten Pick-up sowie dem Fusilier soll dann allerdings wieder in Hambach gefertigt werden. Das Werk hatte Ineos 2020 von Mercedes zum Schnäppchenpreis übernommen. Bis vor wenigen Wochen war dort im Auftrag der Zweisitzer-Smart für Mercedes vom Band gerollt. Mit Ende der Fertigung entsteht neuer Platz, den Ineos dann für sich nutzen will.
 

Auf die Frage angesprochen, was Calder beim nächsten Fahrzeug anders machen würde, geht es schnell um das Thema Vertrieb und die Reise des Grenadiers zum Kunden. Je nach Markt vertreibt Ineos seine Fahrzeuge bisher über Händler wie in Deutschland, im Direktverkauf über das Agenturmodell oder einen Generalimporteur.

Zweifel hat Calder vor allem am Erfolg des Agenturmodells. "Es war in einer Zeit geboren, als die hohe Nachfrage nach Fahrzeugen die Umsetzung sehr erleichtert hat", so Calder.

Diese Konditionen seien nun aber nicht mehr gültig. Als neuer Hersteller ohne große Erfahrung sehe man, dass es gute Gründe dafür gebe, den Händlern den Verkauf zu überlassen. Außerdem habe man den Verwaltungsaufwand unterschätzt, etwa bei Kundenbetreuung mit Call Centern oder der Zulassung der Fahrzeuge in den jeweiligen Märkten.

Calders Schlussfolgerung lautet daher: "Ich bin nicht davon überzeugt davon, dass das Agenturmodell OEMs und Händler so auf eine Linie bringt, dass die Kunden davon profitieren."