Frau Müller, die neue Bundesregierung und der Koalitionsvertrag stehen. Sie hatten in den vergangenen Jahrzehnten mit einem konservativ geführten Verkehrsministerium zu tun. Machen Sie sich Sorgen, dass die Stimme des VDA künftig weniger gehört werden wird?
Die neue Bundesregierung stellt für die Automobilwirtschaft eine Zäsur dar. Jetzt geht es darum, alte Feindbilder auf beiden Seiten hinter sich zu lassen und in einen neuen Dialog zu treten.
Wie soll dieser neue Dialog aussehen?
Ich denke, wir haben bei der neuen IAA in München gezeigt, wie dieser Dialog funktionieren kann. Da gab es das breite Conference-Programm, die Open Spaces im öffentlichen Raum, die konkrete Erfahrung der neuen Mobilität auf der Blue Lane. Wir haben beim VDA einen Veränderungsprozess hinter uns, wir wollen uns offensiver in den öffentlichen Dialog stellen, mit der Zivilgesellschaft sprechen und mit NGOs.
Ist der neue Verkehrsminister Volker Wissing ein guter Partner für den VDA?
Herr Wissing steht natürlich als Verkehrsminister an einer entscheidenden Nahtstelle für uns. Aber das Thema Mobilität ist sehr breit geworden und reicht über die Verkehrspolitik hinaus. Ich nenne da nur die Stichworte Rohstoff-Versorgung und Klimapolitik. Wir kennen alle Partner in der neuen Regierung aus vielen Gesprächen und wir sind zuversichtlich, dass wir bei allen Beteiligten auf verantwortliches Handeln treffen werden.
Die neue Regierung hat das Thema Fortschritt zu ihrem übergreifenden Motto gemacht. Passt das auch für die Automobilindustrie?
Ja in der Tat. Es geht jetzt nicht mehr darum, über das ob der Transformation zu sprechen, sondern über das wie. Und dazu müssen alle Beteiligten die Ärmel hochkrempeln und sich fragen, was sie jeweils dazu beitragen können. Da ist natürlich die Autoindustrie gefordert, aber auch die Politik und viele Beteiligte außerhalb der Autobranche wie die Energie- und Mineralölbranche.
Unter dem Strich scheinen Sie für die Automobilindustrie in Deutschland mit einigem Optimismus auf den Koalitionsvertrag zu blicken?
Ja, auf jeden Fall. Der Koalitionsvertrag ist ein Beitrag, um Dinge zu ermöglichen, nicht um sie zu verhindern.
Wo sehen Sie die entscheidenden Punkte, an denen die Transformation im Mobilitätssektor noch scheitern könnte?
Ich finde wichtig, dass wir jetzt aus der Beschreibung von immer neuen Zielen herauskommen müssen. Jetzt geht es darum, sehr konkret zu überlegen, was passieren muss, dass wir uns diesen Zielen annähern. Wir brauchen dazu Ehrlichkeit in der Debatte – sei es beim Thema Ladeinfrastruktur, sei es beim Thema Rohstoffversorgung oder Preisentwicklung. Im Koalitionsvertrag stehen dazu viele Dinge, die die Verbraucher unmittelbar tangieren. Es ist aber wichtig, die Lebensrealität der Menschen zu sehen in den Städten und auf dem Land. Mein Eindruck da ist, dass die Mobilitätsdebatte vielfach aus der Sicht von Städtern über die Köpfe der Bevölkerung im ländlichen Raum hinweg geführt wird. Meine Transformationserfahrung aus einem anderen Industriesektor ist, dass man die Menschen mitnehmen muss. Viele Menschen haben Angst vor dieser Transformation, weil sie befürchten, dass sie E-Autos nicht überall laden können, weil diese Autos teurer werden, weil immer mehr Verbote drohen. Da darf man nicht unsensibel vorgehen.
Sind Sie skeptisch, ob wir in Deutschland und Europa ausreichend schnell die Ladeinfrastruktur hochfahren können?
Wenn die Ziele der Regierungskoalition erreicht werden sollen, muss vom kommenden Jahr an rechnerisch jeder zweite neue PKW rein elektrisch zugelassen werden. Das wiederum bedeutet, wir bräuchten jede Woche die Installation von 2000 neuen Ladesäulen – derzeit schaffen wir rund 250. Das bedeutet, wir müssen das Aufbautempo verachtfachen. Da müssen wir uns also fragen, kann das klappen. Fest steht: Alleine kann das die Automobilwirtschaft nicht stemmen, wir brauchen dazu auch die Energiewirtschaft, wir brauchen die rechtlichen Möglichkeiten im Baurecht und vieles mehr.
Der VDA und die gesamte Automobilindustrie fordern seit Jahren, die Transformationsdebatte technologieoffen zu führen. Wie beurteilen Sie in dieser Hinsicht den Koalitionsvertrag?
Aus unserer Sicht ist positiv, dass die Koalitionäre differenziert auf den Mobilitätssektor blicken. Im PKW-Bereich werden die Weichen klar in Richtung Elektromobilität gestellt. Und dort sind auch die deutschen Hersteller voll im Umbau. Bei schweren Antrieben ist die Lage dagegen nicht so eindeutig, da gibt es den Wasserstoff und die synthetischen Kraftstoffe. Darüber müssen wir jetzt mit der neuen Regierung mit dem gleichen Engagement reden, wie wir das zuletzt im Bereich des batterie-elektrischen Fahrzeugs getan haben.
Gibt es für den Verband Schmerzgrenzen etwa bei den Themen Tempolimit oder Diesel-Besteuerung?
Ich halte nichts von der Definition von roten Linien. Wir müssen uns mit den Realitäten befassen. Dazu gehört die Frage nach den Rohstoffen, nach der verfügbaren Menge der erneuerbaren Energien. Da müssen wir uns fragen, ob die bisherigen Anstrengungen ausreichen. Ich glaube, es reicht nicht. Jetzt ist die Zeit, Rohstoff-Außenpolitik zu machen, das ist ein Thema, das Frau Baerbock schnell auf die Agenda nehmen muss. Wir brauchen also neue Handelsabkommen. Und dann die Frage, ob die Lade-Infrastruktur in ganz Westeuropa ausreichend schnell wächst. Derzeit liegen 60 Prozent aller westeuropäischen Ladepunkte in Deutschland, Frankreich und in den Niederlanden. Das muss man also monitoren und rechtzeitig gegensteuern, wenn sich zeigt, dass die Infrastruktur nicht mitkommt.
Ein großer Streitpunkt mit der neuen Regierung dürfte die bisherige Dienstwagenbesteuerung sein. Rechnen Sie damit, dass die Branche sich in diesem Punkt auf neue Regeln einstellen muss?
Dienstwagen leisten einen bedeutenden Beitrag für Innovationen in der Branche und auch für den Klimaschutz. Denn sie werden in der Regel nach einer eher kurzen Nutzungsdauer als junge Gebrauchte weitergegeben. Jetzt geht es darum auszutarieren, wie dieses vernünftige Konzept weitergeführt werden kann. Genau das will auch die neue Regierungskoalition und dagegen haben wir nichts einzuwenden. Das gilt auch für die Bereiche Dieselbesteuerung und künftige Fördermaßnahmen. Wir stellen uns nicht dagegen, dass diese Bereiche überprüft werden und dass es gegebenenfalls zu Anpassungen kommt. Wir wollen ja auch die Weiterentwicklung dieser Instrumente. Wichtig ist uns, dass es dabei nicht zu Verboten kommt und das Kind eben nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird.
Falls der Elektro-Boom noch wegen unzureichender Ladeinfrastruktur ausgebremst werden sollte – muss dann ein moderner Verbrenner wieder eine Option werden?
Ein Hin- und Hertaumeln kann sich der Staat nicht leisten, das wäre das falsche Signal. Die Industrie baut jetzt ihre Werke um. Sie braucht jetzt Planungssicherheit. Wir können Leitmarkt für Transformation werden und wenn uns das gelingt, können wir auch das exportieren – und gleichzeitig viel für das Klima erreichen.
Die IAA war und ist eine wesentliche Einnahmequelle für den Verband, jetzt ist diese Messe kleiner geworden – muss da auch der Verband kleinere Brötchen backen?
Der Verband ist, seitdem ich dabei bin, agiler, krisenfester und schlagkräftiger geworden. Die IAA ist ein hervorragendes Leitbild für diese Veränderung geworden. Und ja, das Geschäftsmodell der IAA ist fundamental verändert. Deshalb haben wir schon vor Monaten nicht nur eine Strukturreform des VDA angestoßen, sondern auch eine Finanzreform. Und die Mitglieder haben das mit großer Mehrheit bei der jüngsten Mitgliederversammlung unterstützt. Der Verband hat jetzt einen guten Etat, den die Mitglieder für die nächsten Jahre angenommen haben. Die Balance zwischen den Herstellern ist gewahrt, zugleich wollen wir auch neue Mitglieder gewinnen. Ich bin überzeugt, dass der Verband sehr krisensicher aufgestellt ist.
Viele Zulieferer haben bei der neuen IAA beklagt, dass die Hersteller kaum ihre Einkäufer zur Messe geschickt haben. Dadurch litt natürlich das Geschäft vor Ort.
Ja, der B2B-Teil hat bei der IAA wegen der Reisebeschränkungen gelitten, das sehen wir auch. Aber wir sind absolut überzeugt, dass dahinter kein grundsätzliches Desinteresse steckt. Es gab mehr als 400.000 Besucher aus mehr als 95 Ländern und auch eine starke digitale Beteiligung. Unter dem Strich war das Interesse an der Messe größer, als es die Pandemie erlaubt hat.
Nach der erneuten Absage des Genfer Autosalons - rechnen Sie in Zukunft nur noch mit einer großen Automobilmesse in Europa?
Ich will nicht darüber spekulieren, wie viele Automessen in Europa künftig noch möglich sein werden. Wir haben für die IAA noch viele Ideen, was wir verändern können bei der IAA 2023 in München. Elemente Ausprobieren und Innovationen werden auch bei der IAA Transportation für die Logistikbranche im kommenden September eine zentrale Rolle spielen.
Werden Sie selber denn die kommende IAA 2023 in München noch eröffnen?
Ich habe für die IAA und den Verband noch viele Ideen. Ich widme mich mit voller Kraft und Leidenschaft dem VDA. Mehr möchte ich zu Personalspekulationen nicht sagen.
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