Herr De Carlo, 2022 war für die Edag Group bei Umsatz, und Auftragseingang ein Rekordjahr. Was hat Ihr Geschäft beflügelt?
Der primäre Treiber war die Transformation in der Automobilindustrie. Viele denken, dass das Thema Transformation nur die E-Mobilität betrifft, aber sie ist nur ein Teil davon. Den größten Teil der Transformation betreffen die Themen softwaredefiniertes Fahrzeug und Digitalisierung. Von diesen Treibern haben wir sehr stark profitiert.
VW hat angekündigt, Zuliefererumfänge beim E-Antriebsstrang und dem Thermomanagement inhouse zu fertigen. Befürchten Sie Ähnliches für Entwicklungsdienstleistungen?
Nein, der Markt für Ingenieurdienstleister bleibt sehr gesund.
Warum?
Zum einen profitieren wir von ausgelagerten Entwicklungsdienstleistungen, die für die Fahrzeughersteller und auch die Tier-1-Zulieferer nicht zum Kerngeschäft gehören. Das heißt, es werden größere Pakete an Entwicklungsdienstleister vergeben, die diese Pakete effizienter abarbeiten können. Zum anderen ist das Thema Geschwindigkeit ein großer Treiber unseres Geschäfts, um Entwicklungen zur Marktreife zu bringen. Die neuen Wettbewerber unserer traditionellen Kunden gewinnen an Schnelligkeit. Um dem zu begegnen, benötigen Fahrzeughersteller und Tier-1-Zulieferer nach wie vor kompetente und agile Ingenieurdienstleister.
Welche Umfänge leistet die EDAG Group für das softwaredefinierte Fahrzeug?
Wir sind dort auf drei Feldern unterwegs. In der Entwicklung der Fahrzeugarchitektur, in der Entwicklung von Betriebssystemen und bei der Validierung von neuen Funktionen, die ins Fahrzeug kommen. In diesen Bereichen profitieren wir sehr stark von der Transformation. Vor zwei Jahren haben wir dafür auch eine Software- und Digitalisierungseinheit gegründet. Diese Einheit ist im Vergleich zum Rest des Unternehmens überproportional gewachsen.
Was bedeutet das in Zahlen?
Von unseren insgesamt 8400 Mitarbeitenden sind mittlerweile 1000 Experten im Bereich Software tätig. 2022 haben wir für Softwarelösungen einen neuen Standort in Malaysia aufgebaut. Dort sind allein über 100 Mitarbeitende beschäftigt.
Warum sind Sie nach Malaysia gegangen?
Der Fachkräftemangel und die Verfügbarkeit von Ressourcen sind nach wie vor ein Thema. Wir haben in Deutschland zwar schon sehr viele neue Talente gewinnen können, aber wir brauchen noch mehr Geschwindigkeit. Es stellt sich immer die Frage, woher wir die Ressourcen bekommen. Viele denken, dass es bei einer Best-Cost-Strategie nur um die Kosten geht. Aber es geht auch um die Verfügbarkeit von Ressourcen. Deutschland genießt als Land nunmal nicht die größte Softwarereputation, sondern das Land hatte in der Vergangenheit seine Stärken vor allem im Maschinenbau. Deshalb ist es sehr schwierig, hierzulande genug Softwareingenieure zu akquirieren.
Was bedeutet Digitalisierung für die Edag Group?
Intern nutzen wir bereits Künstliche Intelligenz und digitalisieren unsere Prozesse. Das ist notwendig, um Effizienzsteigerungen zu garantieren. So können wir auch unsere Kunden bei der Beschleunigung ihrer Transformation unterstützen.
Fahrzeuge werden über einen bestimmten Zeitraum bis zur Serienreife entwickelt, Softwarelösungen aber permanent upgedatet. Wie lösen Sie dieses Dilemma?
Das ist die neue Herausforderung für die Mobilitätsindustrie. Der Kunde will, dass sein Fahrzeug regelmäßig upgedatet wird, genauso wie er das heute von seinem Smartphone gewohnt ist. Insbesondere die jüngere Generation von Fahrern erwartet das. Ohne die Möglichkeit zum Update wird sich künftig kein Kunde mehr ein Fahrzeug kaufen. Früher waren Qualitätsdetails entscheidend für einen Autokauf, heute zählen Konnektivität, Nutzung von Online-Diensten oder Update-Fähigkeit zu den Kaufkriterien.
Die Edag Group hat im Rahmen eines Förderprojektes eine zonenbasierte E/E-Architektur entwickelt, die Over-the-air-Updates in künftigen Fahrzeugen generieren kann. Wollen Sie diese Architektur an ihre Kunden verkaufen oder ist das für Sie ein Testfeld?
Beides. Dieses Forschungsprojekt ist für uns eine sehr wichtige Möglichkeit, um uns in neue Themen einzuarbeiten und unsere Expertise zu erweitern, damit wir die Kunden bei der Entwicklung dieser neuen Architekturen begleiten können. Zudem gibt es auch Start-ups, die nicht über die Mittel verfügen, um solche Architekturen zu entwickeln. Solche Unternehmen könnten dann auf eine existierende Lösung zugreifen. Uns unterscheidet von anderen Wettbewerbern, dass wir über eine eigene Forschung verfügen. Wir wollen sicher sein, dass wir unseren Kunden immer die Best-in-Class-Lösung anbieten können.
Haben Sie für die E/E-Architektur schon Kunden?
Ja, außerhalb Deutschlands. Die Automobilindustrie ist deutlich internationaler geworden. Die Führungsrolle Europas ist sicherlich gefährdet von anderen Fahrzeugherstellern aus Asien oder den USA. Dort werden die Themen E-Mobilität und Digitalisierung viel stärker als Chance gesehen. Deshalb beobachten wir sehr genau, wie sich amerikanische und asiatische Kunden entwickeln.
Haben Sie noch Aufträge für den Verbrennungsmotor?
Der Antriebsstrang war nie ein ausgeprägter Schwerpunkt der Edag Group. In der E-Mobilität fokussieren wir uns sehr stark auf Funktionen des Energiemanagements. Dabei geht es darum, die Betriebsstrategie zu verbessern oder Komponenten besser auszulegen. Am Ende des Tages sind unsere Kunden auf der Suche nach mehr Reichweite für ihre E-Fahrzeuge.
Wie sehen Sie die Zukunft des autonomen Fahrens?
Das autonome Fahren kommt, es ist nur eine Frage der Zeit. Die Geschäftspotenziale sind enorm. Man kann den Konsumenten neue datenbasierte Services anbieten, um damit Umsätze zu generieren.
Kann Cyberkriminalität den Durchbruch beim autonomen Fahren verzögern?
Das hängt vom Alter des Autofahrers ab. Die jüngeren Generationen sind nicht so ängstlich wie die älteren. Jüngere Fahrer sind eher bereit, ein Risiko einzugehen, und stellen ihre persönlichen Daten bereit, wenn sie dafür einen zusätzlichen Service erhalten. Ältere Fahrer sind bei der Preisgabe von Daten etwas sensibler.
Müssen Sie mit ihrer Entwicklung in den Weltregionen präsenter sein?
Ja, die lokale Präsenz wird immer wichtiger. Seit ich im Jahr 2018 zur Edag Group gekommen bin, beschäftigt mich die Frage, wie sich ein multinationales in ein internationales Unternehmen transformieren lässt. Menschen in China, den USA oder Europa nehmen Dinge sehr unterschiedlich wahr. Etwa die Themen Konnektivität oder autonomes Fahren. Ich kenne beispielsweise keine chinesischen Fahrzeuge ohne eine Kamera im Innenraum. In Deutschland wäre das wahrscheinlich eine Sonderausstattung. Wenn wir also erfolgreiche Produkte in Europa auch für andere Märkte entwickeln wollen, wird der Anteil der Entwicklung immer stärker lokalisiert werden müssen, damit wir sicher sein können, dass der Kunde an erster Stelle steht.
Welche Regionen stehen bei Ihnen im Fokus?
China und die USA. Wir sind wahrscheinlich der größte europäische Dienstleister in China. Es gibt viele neue chinesische OEMs, die von uns Unterstützung benötigen. Um international tätig zu sein, muss man in diesen beiden Ländern präsent sein. Zudem haben die OEMs angekündigt, in den USA stärker investieren zu wollen. Mit unserem Business Segment Production Solutions begleiten wir viele Kunden im Bereich Industrie 4.0. und der Digitalisierung der Produktionsprozesse. In diesen Bereichen bieten sich für uns enorme Potenziale.
Wie sehen Sie die künftige Rolle eines Ingenieurdienstleisters?
In der Vergangenheit hatten wir viele Ingenieurdienstleister, die nur aktiv geworden sind, wenn sie dazu vom Kunden beauftragt wurden. Heute müssen die Dienstleister viel proaktiver agieren, weil die Kunden von ihnen Lösungen erwarten. Der Kunde gibt uns nicht eine Lösung vor, sondern verlangt, dass wir für seine Probleme eine neue Lösung finden. Auch die Kooperationen mit Start-ups werden bedeutender, um Technologien schneller zur Verfügung stellen zu können. Wir wollen als Dienstleister Inkubatoren von Start-ups sein, um diesen Unternehmen einen schnellen Zugang zum Markt zu garantieren. Die früher starren Beziehungen zwischen Fahrzeugherstellern, Zulieferern und Entwicklungsdienstleistern sind zudem durchlässiger geworden. Das bietet der Edag Group phantastische Chancen.
Wie bewerten Sie die Zusammenschlüsse großer IT-Unternehmen mit Entwicklungsdienstleistern?
Für mich ist das eine natürliche Entwicklung des Marktes. Beim softwaredefinierten Fahrzeug werden die Unterschiede zwischen Engineering und IT immer geringer. Die Ingenieurdienstleister werden zunehmend zu Tech-Unternehmen. Das heißt, Engineering plus IT. Die Merger, die wir am Markt sehen, sind eine natürliche Konsequenz der Bedarfe des Marktes. Deshalb müssen wir auch unsere Softwarekompetenzen rasant aufbauen, damit wir weiterhin die erste Wahl unserer Kunden bleiben.
Dazu aus dem Datencenter:
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