Herr Walliser, wie steuern Sie Ihre Entwicklungsprojekte in Zeiten von Corona?
Wir schauen selbstverständlich auf die Kosten und überprüfen unsere Ressourcen wöchentlich. Viele Kundenprojekte, die in diesem, im nächsten oder übernächsten Jahr ihren Anlauf haben, werden natürlich unvermindert weitergetrieben, um die Meilensteine zu halten. Derzeit arbeiten wir fast unvermindert an den Entwicklungsstandorten im indischen Hyderabad und im tschechischen Pilsen, aber auch dort gibt es wöchentliche Anpassungen.
In Indien herrschen doch strenge Ausgangsbeschränkungen....
Es gab in Hyderabad eine sehr gute Zusammenarbeit mit den dortigen Behörden. Auch während des Ausgangsverbots haben sie uns stark unterstützt und wir konnten über kontrollierte behördengenehmigte Wege unsere Mitarbeiter mit PCs versorgen. Innerhalb von wenigen Tagen waren die Mitarbeiter im Homeoffice voll arbeitsfähig.
Und wo haben Sie zeitlich etwas mehr Spielraum?
Bei den Innovationsprojekten oder bei Projekten in einem frühen Entwicklungsstadium. Auch im Rahmen der Digitalisierung von ZF mit den entsprechenden Prozessthemen haben wir mehr Luft. Da lassen sich Meilensteine auch mal um ein halbes Jahr verschieben.
Wie stark verändert Corona die Digitalisierung in der Entwicklung?
Wahrscheinlich verändert Corona die Digitalisierung stärker als alle bisherigen Programme. Zum einen lernen wir jetzt sehr effizient mit den digitalen Arbeitsformen umzugehen. Zum anderen werden wir viel von dem, was wir aus der Homeoffice-Situation der Mitarbeiter mit gemeinsamen Werkzeugen lernen, kopieren und nach der Krise Teil einer neuen Normalität werden lassen. Bei neuen Projekten, Stichwort Software Defined Car, arbeiten wir wie eine Software-Tech-Company. Deswegen sind wir die Partnerschaft mit Microsoft eingegangen. Wir können von den Erfahrungen Microsofts der letzten fünf Jahre bei der Digitalisierung von Prozessen profitieren und auf unsere Bedürfnisse übertragen.
ZF plädiert für eine Technologieoffenheit. Wie schaffen Sie mit den vorhandenen Ressourcen beispielsweise den Spagat zwischen den Antriebstechnologien?
Zunächst einmal sind wir in der glücklichen Lage, im Kern der automobilen Brückentechnologien zu arbeiten, die für Reduktion von CO2 und Emissionen wesentlich sind. Gerade Plug-in-Hybride werden wegen der hohen Batteriekosten und der fehlenden Infrastruktur für rein batterieelektrische Fahrzeuge noch lange von Bedeutung sein. Nach einer aktuellen Berechnung von ZF erfordert ein Plug-in-Hybrid mit 80 Kilometer Reichweite im Vergleich zu einem vollelektrischen Batterieantrieb nur zwei Drittel der Kosten pro Gramm CO2. Zu unserer Hybrid-Familie gehören sowohl leicht elektrisierte 48V-Systeme wie auch Plug-in-Hybride bis zu Leistungsklassen von 160 Kilowatt. Wir haben mit Kunden gemeinsame große Projekte, mit denen wir vom Verbrennungsmotor bis hin zum Plug-in-Hybrid eine ganze Antriebsfamilie aufbauen. Da lassen sich große Synergien schaffen. Auch mit unserem elektrischen Achsantrieb sind wir an verschiedenen Kundenprojekten beteiligt. Hier setzen wir beispielsweise die Leistungselektronik und Halbleitertechnologie ein, die wir auch in Plug-in-Hybriden und für Elektroantriebe benötigen.
Werden Sie künftig mehr mit Entwicklungsdienstleistern zusammenarbeiten?
Wir arbeiten traditionell sehr intensiv mit starken Engineering-Partnern zusammen. Diese Beziehungen stammen noch aus Zeiten, als wir in einigen Regionen keine eigenen Entwicklungsstandorte hatten. Auch wenn wir zur Zeit natürlich auf jedes Projekt schauen und auf jede Beauftragung, arbeiten wir weiter in den strategischen Partnerschaften. Wir halten zudem eine Beteiligung an der Firma ASAP. Auf Feldern wie dem Gesamtfahrzeugsystem sehen wir sogar die Chance einer strategischen Kompetenzaufteilung.
Welche Bedeutung hat für Sie das Thema KI in der Entwicklung?
Eine ganz zentrale. Die Automobilindustrie ist bei vielen leading-edge Technologien “Follower“. KI-Werkzeuge existieren bereits und brauchen nur gekonnt angewendet zu werden. ZF hat in Saarbrücken ein Technologiezentrum für Künstliche Intelligenz und Cybersecurity gegründet, das stetig weiter ausgebaut wird. Von der Datenanalyse in der Produktion bis hin zur Entwicklung von Regelalgorithmen haben wir ein ganzes Kaleidoskop von Anwendungsfeldern identifiziert.
Wie viele Entwickler hat ZF konzernweit und wie viele davon sind Software- und IT-Spezialisten?
Konzernweit sind rund 20.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich Forschung und Entwicklung tätig. Darunter sind allein 5000 Softwareentwickler, die Software in einer innovativen Architektur entwickeln, testen und als Produkt über over-the-air-updates kontinuierlich ausliefern. Rechnet man die Entwickler hinzu, die sich beispielsweise mit der Modellierung oder Funktionsentwicklung beschäftigen, kommen in diesem Bereich zirka 3000 Mitarbeiter hinzu.
Brauchen Sie weitere Softwarespezialisten?
Auf die Frage "Wie viele Software-Entwickler braucht ihr eigentlich?", antworte ich gar nicht mehr. Wenn wir es richtig machen, haben wir häufig die Mannschaft schon an Bord, um unsere Projekte bearbeiten zu können. Hinzu kommt, dass die erfahrenen Softwareentwickler noch immer nicht auf den Bäumen wachsen. Einstellen allein hilft nicht. Wir müssen anders entwickeln und andere Methoden nutzen, um noch effizienter zu werden.
ZF will auch als Anbieter von reinen Softwareprodukten im Automotivemarkt auftreten. Wie weit sind sie auf diesem Weg und wann rechnen sie mit ersten Produkten?
Wir fangen mit den Modulen an, die wir am besten können. Mit CubiX haben wir ein Projekt aufgesetzt, das die gesamte Fahrzeugdynamik als Softwarepaket anbietet. Dazu zählen Bremsen, Lenkung, elektrischer Antriebsstrang, Achs- und Vertikaldynamik. Das wird das erste Modul sein, das wir ab dem Jahr 2023 entweder als Teil eines Gesamtsystems oder auch als Software-Einzelkomponente anbieten. Dann folgen Module für den Bereich Aktive Sicherheit. Auch im Bereich Fahrerassistenzsysteme oder autonome Shuttles wird es einzelne Module geben.
Haben Sie dafür bereits Kunden?
Wir haben Kunden in einer frühen Phase gewonnen, mit weiteren sind wir in fortgeschrittenen Gesprächen. Auch die neu entstehenden Fahrzeughersteller stellen andere Anforderungen als das noch vor fünf oder zehn Jahren der Fall war.
Können Sie das konkretisieren?
Diese neuen OEMs konzentrieren sich ganz auf ihr innovatives Mobilitätsangebot und die dafür notwendigen Kernfunktionen. Dazu gehören beispielsweise updatefähige Funktionen, Personalisierung im jeweiligen Mobilitäts-Ökosystem oder Leistungssteigerung via Software. Wir können diesen Herstellern Subsysteme wie Vehicle Motion Control abnehmen.
Welche Bedeutung hat die Brennstoffzelle bei ZF und an welchen Komponenten und Systemen arbeiten Sie dort?
Viele Jahre habe ich gesagt, dass die Technologie nicht reif ist und es noch zu viele Kinderkrankheiten gibt. Aber das hat sich geändert! Seit meiner Daimler-Zeit Anfang des Jahrtausends lässt mich die Brennstoffzelle nicht los und es hat sich einiges getan.
Was meinen Sie damit?
Schauen Sie sich beispielsweise den Überlandgüterverkehr an. Wenn nicht zehn Tonnen Batteriegewicht in einem Truck mitgeschleppt werden sollen, ist die Brennstoffzelle ein ernstzunehmender Kandidat. Im Bereich Nutzfahrzeuge sind wir durch die geplante Übernahme von Wabco schon bald ein kompletter Systemanbieter. Unsere Kunden wollen nicht nur eine Bremse oder einen Elektroantrieb von uns, sondern den gesamten Antriebsstrang einschließlich Energiemanagement für Fahrzeug und Aufbauten. Wir sondieren noch auf welcher Systemebene wir unseren Kunden ein gutes Leistungsangebot machen können. Da werden sie in den nächsten Jahren sicherlich noch von uns hören.
Welche Perspektiven eröffnet für Sie die Wabco-Übernahme?
Diese Partnerschaft bietet unter anderem eine Ergänzung auf der Komponentenseite und wird uns zu einem einmaligen Systemanbieter machen. Wabco verfügt auch im Bereich Aftermarket über eine ausgeprägte Digitalisierungskompetenz bei Trailern. Da sehen wir ebenfalls viele Optionen und Synergien. Und wenn man sich die gemeinsamen Entwicklungsstandorte anschaut, werden wir unseren Entwicklungs-Footprint auch für Nutzfahrzeuge global stärken.
In welchen Bereichen wollen Sie 2020 die Schwerpunkte bei der Entwicklung setzen?
CO2-Reduktion, Elektrifizierung der Antriebsstränge, Energiemanagement und die dazu gehörenden Technologien. Des weiteren Sicherheitssysteme, die in Richtung Level 2+ benötigt werden oder auch Produkte und Services für kommende Software Designed Cars. Dazu zählt nicht nur Software, sondern auch eine weiterentwickelte Art smarter Aktuatorik, die leicht und intelligent in neue Architekturen eingepasst werden kann.
Was wäre ein Beispiel für eine smarte Aktuatorik?
Beispielsweise ein integriertes Bremssystem. Das unterliegt hohen Sicherheitsanforderungen, die entsprechend erfüllt werden müssen. Bei den service-orientierten Architekturen erfolgt der Befehl zum Bremseingriff nicht nur vom Bremssteuergerät, sondern kann auch durch andere Steuergeräte initiiert werden. Auch bei einer smarten Lenkung geht es darum, diese so zu gestalten, dass sie in vernetzten Architekturen von High-Performance-Computern angesteuert werden kann. Smarte Aktuatoren sichern ihre einwandfreie Funktion in jeder Situation oder Architektur ab. Wir statten unsere Aktuatoren und Systeme auch so aus, dass sie als Datenquelle dienen können. Es gilt, Daten im Fahrzeug bereitzustellen und intelligent zu nutzen, um Systeme effizienter und besser auszulegen. Smarte Aktuatoren können hierzu einen wertvollen Beitrag leisten.
Wollen Sie das Thema Entwicklungspartnerschaften weiter ausbauen?
Wir können nicht alle Technologien selbst entwickeln. Es sind in der jüngeren Vergangenheit viele Technologiefirmen entstanden, die wir für uns in Form von Partnerschaften nutzen wollen. Im Gegenzug bringen wir unser Automotive Know-how und den notwendigen Anwendungszugang ein. Unser eingangs erwähnter technologieoffener Ansatz bedingt oder erfordert solche Partnerschaften. Auch Wabco ist gewissermaßen eine Partnerschaft auf Augenhöhe in der Form einer Integration. Strategische Technologiepartnerschaften und Entwicklungskooperationen werden wir weiter vorantreiben.
Wollen Sie mit Ihrer Entwicklung stärker in Niedriglohnstandorte gehen?
Unsere Entwicklungsstandorte wählen wir dort, wo wir die besten Talente für wettbewerbsfähige Konditionen gewinnen können. Dabei streben wir die Konzentration von Entwicklungskompetenzen an und ein gesundes Prinzip "local for local". Das heißt, wir machen Entwicklung auch dort, wo sie für unsere Kunden benötigt wird. Mit derzeit 1500 Mitarbeitern haben wir ein wachsendes Technologiezentrum in Hyderabad. Die Ingenieure vor Ort sind sehr gut ausgebildet und können uns gerade im Bereich Softwareentwicklung ein ganzes Stück voranbringen.
Wird künftig mehr Entwicklungsverantwortung von den Fahrzeugherstellern auf die Zulieferer verlagert?
Ich gehe davon aus, dass sich die Schwerpunkte verändern. Allein durch die Elektrifizierung müssen sich die Fahrzeughersteller Gedanken machen, was in der Wertschöpfung an die Stelle von Verbrennungsmotoren tritt – auch in der Entwicklung. Da wird es künftig sicherlich einen anderen Aufgabenmix geben. Es gibt aber kein einheitliches Bild, etwa dass alle Hersteller ihre Elektromotoren oder Inverter selbst bauen und entwickeln wollten. Kunden denken etwa darüber nach, bestimmte komplexe Systeme von Zulieferern machen zu lassen, um sich auf neue Herausforderungen vernetzter Mobilität zu konzentrieren.
Und im Bereich Software?
Dort gibt es viel Bewegung. Derzeit denken manche Hersteller darüber nach, die Software selbst zu entwickeln und zu vermarkten. Am Ende steht die Kernfrage, was für einen Hersteller wirklich marken- und wettbewerbsdifferenzierend ist oder wo man sich eher Komplexität einhandelt. Bei der Integration der Software rechne ich damit, dass die Verantwortung partnerschaftlich zwischen Fahrzeugherstellern und Zulieferern verteilt wird.
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