Alain Visser gehört zu den wenigen Automanagern, die in der Corona-Krise mehr Chancen als Risiken für ihr Unternehmen sehen. Der Belgier steht seit der Gründung der Marke Lynk & Co im Jahr 2016 an der Spitze der chinesischen Volvo-Schwester. Zuvor war er Vertriebschef bei Volvo und Opel.
Herr Visser, die Autobranche leidet weltweit unter dem Corona-Schock. Wird sie dadurch dauerhaft schrumpfen?
Der Bedarf nach individueller Mobilität wird nach dem Abklingen der Shutdowns wieder deutlich steigen. Aber es wird nachhaltige Veränderungen geben. Diese Krise verstärkt Trends, die schon längst da sind: Die Nutzung von Fahrzeugen wird wichtiger sein als deren Besitz, flexible Mobilitätslösungen treten an die Stelle von Kauf, die Bedeutung des Automobils als Statussymbol wird schrumpfen.
All diese Themen werden seit Jahren diskutiert. Aber wie gut ist die Autobranche wirklich darauf vorbereitet?
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir feststellen: Die Autobranche funktioniert im Prinzip noch so wie bei ihren Anfängen vor 120 Jahren. Die Hersteller entwickeln zu hohen Kosten Fahrzeuge, stellen sie in großen Fabriken her und verkaufen sie in möglichst großer Stückzahl über ein riesiges Händlernetz. Daran hat sich nichts Wesentliches geändert. Doch dieses Geschäftsmodell wackelt immer mehr. Es ist enorm kapitalintensiv, komplex und konjunkturabhängig. Das Geschäftsmodell von Lynk & Co geht einen anderen Weg. Wir verkaufen nicht Fahrzeuge stationär, sondern Mobilität per Abonnement online.
In China hat Lynk & Co 2018 allerdings mit dem Aufbau eines klassischen Handelsnetzes begonnen.
Das stimmt – China ist in dieser Hinsicht ein Sonderfall. Die Kunden wollen dort noch ein Auto privat besitzen, ein Abonnement wird fast als Beleidigung empfunden. Doch der Markt ändert sich in China sehr schnell. Das haben wir dort schon vielfach erlebt.
Sie haben auf dem Automobilwoche Kongress 2016 gesagt, Lynk & Co wolle gar nicht so viele Autos wie möglich verkaufen. Woher kommt dann Ihre Marge?
Unser Ziel ist es, so viele Mitglieder wie möglich zu gewinnen. Unser Basismodell ist dabei eine Mitgliedschaft über mindestens einen Monat. Wir wollen so etwas wie das Spotify der Automobilindustrie werden. Und da wir keine Händler haben, müssen wir die Marge auch nicht teilen.
Wie erfolgreich sind Sie bislang mit diesem Geschäftsmodell?
Wir hatten im ersten Jahr bereits 120.000 Kunden, 2019 sind wir in unserem Kernmarkt China trotz der chinesischen Automobilkrise um gut zehn Prozent gewachsen. Und im Krisenmonat April haben wir in China um 50 Prozent zugelegt. Wir erleben, dass die Marke in China als sehr "hot" wahrgenommen wird.
Wann kommen Sie nach Europa?
Wir werden Ende dieses Jahres in Amsterdam unseren ersten Flagship-Store eröffnen. Die Niederlande sind sehr Abo-affin. Ursprünglich hatten wir für unseren ersten Europa-Store auch an Berlin gedacht, aber ein etwas kleinerer Markt wie Amsterdam ist besser geeignet, um zu lernen.
In China gibt es Lynk-Händler. Wird es die auch in Europa geben?
Nein. Wir werden keine Markenhändler haben, sondern nur sehr wenige Stores aufbauen. Das spart enorme Kosten. Die Fahrzeuge werden über einige wenige Punkte ausgeliefert oder auf Wunsch auch direkt zum Kunden vor die Haustür gebracht. Den Service übernehmen ausgewählte Volvo-Werkstätten. Das ist für alle Beteiligten eine Win-win-win-Situation, für den Hersteller, die Kunden und die Werkstätten.
Glauben Sie wirklich, dass eine neue Automarke ohne lokale Händler erfolgreich sein kann?
Die Kundenzufriedenheit im stationären Autohandel ist nicht sehr hoch, die Markenbindung lässt nach, der Rabattkampf ist ein Dauerproblem. Das alles bedeutet für uns große Chancen. Wir werden keine Rabatte haben, keine Lagerbestände und nur wenige Varianten, wenige Farben. Damit entgehen wir den größten Problemen des klassischen Autohandels.
Zuletzt wurden alle großen Autoshows abgesagt. Wie wollen Sie Ihre neue Marke bekannt machen?
Wir werden vor allem online präsent sein. Eine Marke kann man aber nur durch physische Präsenz etablieren. Genau dafür sind unsere Stores da. Aber Automessen sind für uns nicht mehr nötig. Sie mögen für einige Marken noch von Bedeutung sein, für uns sind sie ein Anachronismus.
Das Interview führte Michael Knauer
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