Der Blick in die Glaskugel ist spannend, aber auch riskant – angesichts zahlreicher hoch volatiler Faktoren wie Chipmangel, Pandemie oder allgemeine Konjunkturentwicklung kann eine Prognose im Nullkommanix zerbröseln. Die Automobilwoche wagt es dennoch: einen Ausblick auf die wichtigsten Trends in der Automobilindustrie für das Jahr 2022 – und zum Teil auch darüber hinaus.
NEUZULASSUNGEN Im ersten Halbjahr wird die Chipkrise die Auslieferungen noch deutlich bremsen, doch die Orderbücher sind voll und die Kunden wollen bestellen. Im zweiten Halbjahr werden die Absatzzahlen daher spürbar ansteigen. Die Marktanalysten von IHS rechnen 2022 für den deutschen Markt mit 2,9 Millionen Pkw-Neuzulassungen. Genau dieselbe Prognose gab jüngst der Zentralverband Deutsches Kraftfahrzeuggewerbe (ZDK) ab. Der Verband der Internationalen Kraftfahrzeughersteller (VDIK) erwartet in Deutschland einen Tick mehr: eine Markterholung auf etwa drei Millionen neue Pkw. Der Verband der Automobilindustrie (VDA) jedoch bleibt vorsichtig und hat bis Redaktionsschluss noch keine Prognose abgegeben. Die Branchenbeobachter von Dataforce rechnen für den europäischen Gesamtmarkt mit rund 12,6 Millionen neu zugelassenen Pkw. Das wäre ein Plus von 8,9 Prozent gegenüber 2021. Dataforce erwartet eine etwas stärkere Entwicklung im Privatmarkt als im Gewerbemarkt.
CHIPKRISE Die Chipkrise wird 2022 nicht zu Ende gehen, sondern sich bestenfalls abschwächen. Somit bleiben Produktion und Absatz auch 2022 unter den Möglichkeiten, Hersteller und Zulieferer müssen weiter priorisieren. Vorteile bei der Chipversorgung haben nun einer aktuellen Studie von Roland Berger zufolge die jüngeren Autohersteller, die ihre Fahrzeugarchitekturen rund um zentrale Rechnereinheiten bauen. Die Chipkrise beflügelt somit auch den Trend zu zentralen IT-Architekturen. Unvermeidlich ist eine weit engere Zusammenarbeit zwischen OEMs und Tier-2- Anbietern im Halbleiterbereich. Letztlich muss die Autoindustrie ihre Lieferkettenstrategie deutlich robuster gestalten. Mittelfristig können dadurch auch wieder Automotive-Jobs von China nach Europa zurückgeholt werden. Eine reine Kapazitätserhöhung in der Chipfertigung wird jedoch nicht ausreichen. Dies muss einhergehen mit der Einführung smarterer IT-Architekturen.
DIGITALISIERUNG Die vernetzte Produktion führt zu einer Umwälzung der Lieferketten und der Arbeitswelt. 2022 wird dabei ein Schlüsseljahr sein. Das neue Tesla-Werk in Grünheide wird hier Maßstäbe setzen, etwas später auch die Trinity-Fabrik in Wolfsburg. Die Folgen sind kaum absehbar. Fest steht: Der Wandel beschleunigt sich weiter, wird zum permanenten Zustand und erfordert enorme Anpassungsfähigkeit sowohl der Unternehmen wie auch der Mitarbeiter. Der Stresslevel in der Industrie wird dauerhaft höher liegen.
ANALYTICS Nicht nur die Probleme in den Lieferketten zeigen, dass die Autobranche weit mehr Daten erfassen und analysieren muss, um Probleme so früh wie möglich erkennen und gegensteuern zu können. Kurz gesagt, es braucht mutige Investitionen in Analytics. Dazu gehören Signale aus der Rohstoffgewinnung. Ein Stichwort ist hier die Nachverfolgbarkeit von Kobalt bei der Gewinnung im Kongo mithilfe der Blockchain-Technologie, aber auch Signale von der Verbraucherfront. Die Autohändler müssen ihre Kunden so perfekt wie möglich kennen, noch bevor diese das Autohaus betreten. All das ist nur mit einer umfassenden Datenerhebung und Künstlicher Intelligenz zu bewerkstelligen.
REMOTE WORK Eine Folge der Pandemie und der fortschreitenden Digitalisierung ist die Trennung von Beschäftigung und Arbeitsort. Remote Work wird zum "New Normal", und das wird von jungen Talenten auch erwartet. Zu diesem neuen Arbeitsmodell gehören aber nicht nur Heimarbeit-Optionen, sondern auch mehr Spielräume, mehr Selbstbestimmtheit und flachere Hierarchien. Wer sich hier dagegenstemmt, wird wachsende Probleme bei der Rekrutierung bekommen – und zudem eine Ressource verschwenden, die immer wichtiger wird: die Kreativität der Mitarbeiter, die in freieren Abläufen entsteht. Unternehmen sollten also Mut haben und die Zügel locker lassen.
FORTBILDUNG Begabte, agile und hoch motivierte Mitarbeiter wünscht sich jeder. Autohersteller und Zulieferer versuchen häufig aber immer noch, die besten Talente des Rivalen abzuwerben. Das führt oft nur zu hohen Kosten für Headhunter und weiter steigenden Einstiegsgehältern. Ganz besonders gilt das für den Bereich der Softwareentwicklung. Unternehmen haben inzwischen begriffen, dass sie in dieser Situation weit mehr in Aus- und Weiterbildung investieren müssen, um nicht abgehängt zu werden. Firmen in Randgebieten bleibt oft ohnehin keine andere Wahl. Im laufenden Jahr steht deshalb bei vielen Unternehmen eine strategisch geplante Aus- und Fortbildung der Stammbelegschaft auf der Agenda. Die Firmen stecken mitten in der Disruption und müssen ihre Mitarbeiter auf ganz neue Aufgaben vorbereiten.
NACHHALTIGKEIT Nachhaltigkeit in sämtlichen Bereichen ist längst kein Marketingbegriff mehr, sondern wird zur Chefsache – oder muss dazu werden. Verbraucher und Politik, aber auch Investoren fordern immer deutlicher Produkte, die aus nachhaltig gewonnenen Rohstoffen nachhaltig produziert werden. Wer in dem Bereich schlampt, wird abgestraft. In Deutschland wird die neue Ampel-Koalition noch strenger regulieren. Die EU hat mit dem "Green Deal"-Programm die Marschrichtung vorgegeben. 2022 reicht es daher nicht mehr aus, dicke Nachhaltigkeitsberichte an die Bilanz zu tackern. Jetzt werden die Bemühungen bei Klimaschutz, sozialer Verantwortung und Compliance- Regeln akribisch gemessen, bewertet und abgerechnet.
RECYCLING Die gesetzlichen Anforderungen an die Wiederverwertbarkeit von Materialien und Komponenten in Europa steigen. Einen zusätzlichen Schub erhält die Recyclingbranche im Jahr 2022 durch Lieferengpässe bei zahlreichen Rohstoffen. Für die Automobilwirtschaft bedeutet das: Sie wird ihre Bemühungen um ein "Second Life" ihrer Produkte noch stärker vorantreiben. Beispielhaft zeigt Renault mit seiner "Re-Factory" im ehemaligen Montagewerk Flins, wohin die Reise geht: Die Zukunft gehört markenübergreifenden Konzepten.
BIDIREKTIONAL Volkswagen rüstet ab 2022 sämtliche ID-Modelle mit der Technologie für das sogenannte bidirektionale Laden aus. Das bedeutet, die Batterien der Fahrzeuge können nicht nur Strom aufnehmen, sondern – eine entsprechende Wallbox vorausgesetzt – bei Bedarf auch wieder abgeben, etwa wenn Knappheit im Netz droht. Auch Tesla forscht an dieser Technologie. Das Model 3 ist mit der entsprechenden Funktion ausgerüstet, die per Update freigeschaltet werden soll. Netter Nebeneffekt für Kunden: Wer Strom ins örtliche Netz einspeist, kann ähnlich wie mit einer Fotovoltaikanlage auf dem Dach damit Geld verdienen. Noch sind die dafür nötigen Wallboxen zwar sehr teuer. Aber 2022 dürften die Preise sinken und erste Autos als zusätzliche Stromspeicher ihren Weg in die Infrastruktur der lokalen Energieversorger finden.
OTA-UPDATES Nahezu alle großen Hersteller wollen 2022 das Geschäft mit Over-the-Air-Updates ausbauen. Das Ziel von BMW war es, bereits Ende vorigen Jahres 2,5 Millionen updatefähige Fahrzeuge auf der Straße zu haben. Nach Konzernangaben sind das mehr als bei jedem anderen Hersteller. Diese Autos können die Münchner drahtlos und ohne Besuch in einer BMW-Werkstatt mit notwendigen Software-Aktualisierungen versorgen. Vertriebsvorstand Pieter Nota: "Der Mobilfunkstandard 5G erweitert die Möglichkeiten der Vernetzung um ein Vielfaches." Bei Rivale Tesla sind Aktualisierungen längst Standard, auch neue Hersteller auf dem deutschen Markt wie Polestar frischen ihre Fahrzeuge inzwischen drahtlos auf. Ein Trend, der in diesem Jahr noch einmal an Bedeutung gewinnt.
AUTONOM LEVEL 3 Für einige Jahre war es ruhiger geworden um das automatisierte Fahren. Nun aber hat das Thema an Dynamik gewonnen. Der Drive Pilot für die Mercedes S-Klasse und das elektrische Pendant EQS hat als erstes Fahrerassistenzsystem auf Stufe 3 des automatisierten Fahrens eine international anerkannte behördliche Genehmigung erhalten. Dies ist deshalb bedeutsam, weil damit die Verantwortung für das Auto bei aktiviertem System vom Fahrer auf den Hersteller übergeht. Zwar ist der Drive Pilot bisher nur auf Autobahnen und bis Tempo 60 frei gegeben, was die Nutzung sehr theoretisch macht. Doch das Einsatzgebiet dürfte sich sukzessive vergrößern. Tech- Firmen wie Waymo dagegen wollen gleich den Sprung auf Stufe 5 schaffen, weil dann der Fahrer eingespart werden kann und für Taxifahrten und Shuttle-Dienste ganz neue Geschäftsmodelle entstehen. Vor allem in den USA sind bereits zahlreiche Firmen mit Testflotten unterwegs, die zum Teil auch keinen Sicherheitsfahrer mehr an Bord haben. Dazu zählen AutoX, Cruise, Nuro, Waymo und Zoox. In Europa machte zuletzt die Intel-Tochter Mobileye von sich reden, die in München und nun auch in Paris erste Passagiere in automatisierten Fahrzeugen chauffiert. Hier ist allerdings noch ein Sicherheitsfahrer dabei. Ungeklärt ist allerdings die Frage, mit welchem Pfad sich am Ende mehr Geld verdienen lässt. Mercedes kann den Drive Pilot als teure Sonderausstattung abrechnen. Die Robotaxis dagegen konkurrieren mit dem öffentlichen Personennahverkehr, der hoch subventioniert werden muss.
GEBRAUCHTE Ein Schmuddelimage haftete Gebrauchtwagen bis vor einigen Jahren an. Das hat sich gründlich gedreht. Für Händler ist es das Segment mit den größten Chancen: Hier können sie ihre unternehmerischen Freiheiten nutzen und hohe Margen einfahren. Chipkrise und Lieferprobleme bei Neuwagen haben die Entwicklung zuletzt kräftig angeschoben. Das wird auch 2022 der Fall sein. Denn ein Ende der Chipkrise ist nicht in Sicht (siehe oben). Das Gebrauchtwagensegment erlebt einen Nachfrageboom. Mit einer Normalisierung ist nicht vor 2023 zu rechnen. Davon möchten jedoch nicht nur Händler profitieren. Zahlreiche Hersteller und Start-ups haben das Segment für sich entdeckt und stricken an neuen Konzepten.
AGENTURMODELL Was bei Mercedes-Benz seit Jahren Usus ist, macht nun auch in den Vertriebsorganisationen anderer Hersteller Schule: der Vertrieb über das Agenturmodell. Die Einführung neuer elektrifizierter Modelle war dabei oft ein willkommener Anlass. Beste Beispiele hierfür sind Volvo und die Volkswagen-Kernmarke VW. Deren Konzernschwestern Audi und Škoda sind gerade dabei, zu folgen. Auch bei Stellantis laufen aktuell die Verhandlungen. Es dürften nicht die letzten gewesen sein. Meist geht es um ein unechtes Agenturmodell, in dem der Handel einen Teil seiner unternehmerischen Selbstständigkeit behält. Nur Mercedes hat sich bereits an den nächsten Schritt gewagt. Bereits im kommenden Jahr führen die Stuttgarter das echte Agentenmodell ein, bei dem die Händler im Austausch gegen ihre unternehmerische Selbstständigkeit und ein paar Prozentpunkte ihrer Marge jegliches unternehmerische Risiko an den Hersteller abgeben. Die Konkurrenz dürfte aufmerksam beobachten.
Mitarbeit: Christoph Baeuchle/Michael Gerster/Lennart Wermke/Armin Wutzer
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