Stuttgart. Dem überraschenden Abgang von Daimler-Vorstand Andreas Renschler ging offensichtlich kein Streit voraus. Vielmehr verdichten sich die Hinweise, dass der 55-Jährige für sich keine attraktiven Perspektiven beim Stuttgarter Autohersteller sah und nun eine neue Herausforderung bei der Konkurrenz sucht. "In solchen Fällen heißt es oft, man habe sich 'in gegenseitigem Einvernehmen' getrennt. Ich kann Ihnen versichern: In diesem Fall stimmt es. Andreas Renschler verlässt Daimler aus persönlichen Gründen. Ich respektiere seinen Entschluss, aber ich bedaure ihn auch", schreibt Daimler- und Mercedes-Chef Dieter Zetsche in einem Brief an die Mitarbeiter, der der Automobilwoche vorliegt.
Daimler hat am Dienstagabend überraschend das Ausscheiden von Renschler mitgeteilt: Er habe darum gebeten, seine Bestellung in gegenseitigem Einvernehmen vorzeitig aufzuheben. Der Aufsichtsrat habe dieser Bitte einstimmig entsprochen. Offensichtlich wurde der Stuttgarter Autohersteller vom Rückzug des Mercedes-Einkaufs- und Produktionschefs überrumpelt. Der Vertrag mit Renschler war im Dezember 2012 verlängert worden und sollte bis Ende September 2018 laufen.
Hartnäckig hält sich das Gerücht, Renschler habe ein Angebot von Volkswagen: Dort könnte er Chef des Nutzfahrzeuggeschäfts werden und Leif Östling beerben, der im September 2012 in den VW-Vorstand einrückte mit dem Auftrag, die Allianz der Marken Scania und MAN voranzubringen. Der Vertrag des 68-jährigen Schweden und Ex-Scania-Chefs läuft bis 2015. Im Herbst 2014 könnte sich Volkswagen folglich auf die Suche nach einem Nachfolger machen. Renschler hat laut Daimler eine "branchenübliche" Wettbewerbsklausel in seinem Vertrag.
Dass das Daimler-Urgestein den Konzern überhaupt verlässt, hat möglicherweise damit zu tun, dass sich Renschler nur noch geringe Chancen ausgerechnet hat nach Zetsche Daimler-Chef zu werden. "Wenn Dieter weitere sechs Jahre arbeiten will, würde ich in meinem Job nicht glücklich werden", sagte er dem "Wall Street Journal". Ein Daimler-Sprecher relativierte die Aussage: Renschler habe sich immer von der Kronzprinzenrolle distanziert und stets darauf hingewiesen, dass Zetsche und er derselben Generation angehörten. Der Vertrag von Zetsche (60) läuft bis Ende 2016. Unternehmensbeobachter halten es für durchaus möglich, dass sein Vertrag nochmals verlängert wird.
Fakt ist, dass Renschler die Nutzfahrzeugsparte von Daimler äußerst erfolgreich geführt hat: Er trieb die Gleichteil-Strategie zwischen den Marken voran, sorgte für flexible Arbeitszeiten im äußerst zyklischen Lkw-Geschäft und baute in Schwellenländern wie China und Indien neue Aktivitäten mit Low-Cost-Trucks auf. Dann - im Frühjahr 2013 - wurde er von den Arbeitnehmervertretern unter Führung des Gesamtbetriebsrats Erich Klemm zum Job-Tausch mit seinem Vorstandskollegen Wolfgang Bernhard gezwungen. Renschler blieb zwar im Daimler-Vorstand, wurde aber als Mercedes-Einkaufs-und Produktionschef nur zweiter Mann hinter Zetsche. Bernhard hingegen rückte als Chef der Lkw-Sparte auf. Die Rochade war eine Bedingung der Arbeitnehmervertreter an Daimler-Aufsichtsratschef Manfred Bischoff: Sie wollten nur dann einer Vertragsverlängerung von Zetsche zustimmen. Aufgrund der permanenten Spar- und Kostensenkungsmaßnahmen in der Pkw-Sparte war das Verhältnis mit Bernhard zerrüttet.
Auch die Achse Östling – Winterkorn lief schon runder. Vom Wirken seines für Nutzfahrzeuge zuständigen Vorstandskollegen hat sich der VW-Chef dem Vernehmen nach deutlich mehr versprochen als dieser bislang geliefert hat. Der VW-Konzern hatte den im schwedischen Södertalje ansässigen Nfz-Hersteller Scania 2008 vollkonsolidiert. Bereits im Jahr darauf kam es im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise zu einem starken Rückgang der Nachfrage im Geschäft mit Lkw und Bussen. Damals sah sich die Traditionsmarke Scania unter anderem zu einer Verschiebung von Investitionen und der Reduzierung der Arbeitszeit gezwungen. Seinen langjährigen Anteil an MAN wiederum hatte VW Ende 2011 auf 55,9 Prozent der Stimmrechte und 53,71 Prozent des Grundkapitals erhöht; seither wird das Münchner Unternehmen als weitere Marke des VW-Konzerns konsolidiert.
Mitte 2012 stellte VW-Chef Martin Winterkorn dann personell die Weichen für eine möglichst enge Kooperation von Scania, MAN und Volkswagen Nutzfahrzeuge (VWN): Die Verantwortung für das Groß-Ressort Nutzfahrzeuge im Konzernvorstand wurde wenig später Leif Östling übertragen. "MAN, Scania und Volkswagen werden in der Zusammenarbeit gleichberechtigt und auf Augenhöhe agieren!", kündigte Winterkorn damals vor Führungskräften an.
Damit, so scheint es aus heutiger Sicht, war bereits der Keim für aktuelle Probleme gelegt. Zwar sollten die drei Marken auf Winterkorns Wunsch fortan "im engen Schulterschluss Synergien heben und Wachstumspotenziale gemeinsam nutzen". Doch wirklich überzeugende Erfolge lassen auf diesen Feldern noch immer auf sich warten. Scania, MAN und VWN befänden sich inzwischen im Wortsinn auf Augenhöhe, berichten VW-Insider übereinstimmend. Die drei Marken leiteten daraus aber weniger die Pflicht zu nachhaltigen Kooperationen ab, sondern vielmehr das Recht auf eigenmächtige Entscheidungen, kostspielige Sonderwege und allerlei Ausnahmen vom übergeordneten Synergie-Projekt. (Mitarbeit: Henning Krogh)