München/Stuttgart. BMW-Aufsichtsratschef Norbert Reithofer zitierte bei der 100-Jahr-Feier des Unternehmens den Sozialdemokraten Willy Brandt: "Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten." Das muss sich auch BMW-Designchef Adrian van Hooydonk gedacht haben, als er den Auftrag für eine Konzeptstudie erhielt, die 100 Jahre in die Zukunft blicken soll. Als Vision Next 100 wurde das Auto auf der Jubiläumsfeier der Öffentlichkeit präsentiert. Wettbewerber Mercedes-Benz nutzt seit Jahrzehnten Forschungsfahrzeuge, um den eigenen Anspruch auf Technologieführerschaft im Premiumsegment zu demonstrieren. Jüngster Spross ist der F 015. Was verbindet, was unterscheidet beide Studien? Ein Vergleich.
Das Premium-Duell um die Zukunft
Mercedes: Der F 015 ist konsequent auf das autonome Fahren ausgelegt. Der gewaltige Radstand von 3,61 Metern – ein halber Meter mehr als bei einer aktuellen S-Klasse in Langversion – ermöglicht große Bewegungsfreiheit. Ebenfalls dem Innenraum zugute kommen der Verzicht auf das bislang klassenübliche Stufenheck und ein durchgehend flacher Boden.
BMW:Wie sieht "Freude am Fahren" aus, wenn das autonome Fahren zur Alltagserfahrung wird? BMW beantwortet die Frage mit einem sportlichen Luxuscoupé, das zwei Charaktere aufweist: Einen "Ease"-Modus für das autonome Fahren und einen "Boost"- Modus für den Selbstfahrer. Die BMW-Designer behandeln beide Fahrmodi gleichberechtigt.
Mercedes:Die Stuttgarter kombinieren kohlefaserverstärkte Kunststoffe mit Aluminium und hochfesten Stählen und erreichen so eine Gewichtsersparnis von rund 40 Prozent gegenüber der S-Klasse. Markant sind die gegenläufig öffnenden Türen mit einem Öffnungswinkel von 90 Grad – angesichts der Fahrzeuggröße eine technische Herausforderung.
BMW:Wichtigstes Merkmal der BMW-Studie sind Hunderte bewegliche Kunststoff-Dreiecke, die eine flexible Außenhaut ("Alive Geometry") ermöglichen. Sie umschließen beispielsweise die Vorderräder vollständig, um den Luftwiderstand zu minimieren. Beim Lenken verformt sich das Radhaus so, dass die Räder stets ausreichend Platz haben.
Mercedes:"Lounge-Charakter" lautete das Designziel bei der Entwicklung des F 015. Dazu tragen die vier drehbaren Einzelsitze bei, die es den Insassen ermöglichen, sich während autonomer Fahrten anzusehen. Die großzügige Verwendung organischer Materialien wie offenporiges Nussbaumholz kontrastiert mit sechs Hightech-Displays und kühlem weißen Nappaleder.
BMW:Im Next 100 gibt es keine Displays mehr. Alle Informationen werden per Augmented-Reality-Technologie in die Windschutzscheibe eingespiegelt. Fahrer und Beifahrer sitzen immer in Fahrtrichtung. Das Auto ist sogar für Veganer geeignet, denn auf Leder verzichtet BMW völlig. Stattdessen kommen nachwachsende Rohstoffe und recyceltes Carbon zum Einsatz.
Mercedes:Um trotz fehlender B-Säule beim Seitenaufprall maximale Sicherheit zu bieten, nutzt Mercedes "crashaktive Bordkanten" unterhalb der Seitenfenster. Das sind aufblasbare Metallstrukturen, die in Sekundenbruchteilen unter einen Druck von 20 Bar gesetzt werden. Die Wasserstofftanks sind aus hochfesten Kohlefaser-Geweben.
BMW:Aktive Sicherheit spielt bei BMW eine wichtige Rolle: Es gilt, im "Boost"- Modus den Fahrer vor Unfällen zu bewahren. Beispielsweise wird die Windschutzscheibe genutzt, um dem Fahrer eine Ideallinie, Einlenkpunkte und maximale Kurvengeschwindigkeit anzuzeigen – oder ihn während des Überholens vor entgegenkommenden Fahrzeugen zu warnen.
Mercedes:Fährt der F 015 autonom, leuchten an Front- und Heckpartie blaue LEDs. Weißes Licht hingegen signalisiert: Der Fahrer ist am Steuer. Je nach Verkehr erhalten nachfolgende Fahrzeuge sogar Botschaften wie "Stop" oder "Slow". Wenn der F 015 hält, um Fußgänger die Straße überqueren zu lassen, projiziert er einen Zebrastreifen auf die Fahrbahn.
BMW:Für die Interaktion mit anderen Verkehrsteilnehmern sorgt bei BMW eine kleine, Edelstein- artige Skulptur auf der Instrumententafel. Sie erhebt sich im autonomen Fahrmodus und zeigt die Absicht des Fahrzeugs mit Lichtsignalen und Bewegungen. Kann zum Beispiel ein Fußgänger die Fahrbahn überqueren, leuchtet der "Companion" grün.
Mercedes:Das Bedienkonzept des F 015 nutzt Technologien, die in der IT-Welt schon Alltag sind: Gestensteuerung, Eye-Tracking und berührungssensitive Displays. Spannend ist, wie Mercedes den Insassen bei autonomer Fahrt ein Gefühl für die Fortbewegung vermittelt: Dann huschen Partikelströme über die Displays an den Seitenwänden.
BMW:Die Münchner setzen auf lernfähige Computerprogramme, die weniger Bedienung notwendig machen, weil das Auto Gewohnheiten seiner Nutzer mit der Zeit lernt. Wenn der Mensch am Lenkrad sitzt, kommt der Gestensteuerung eine wesentliche Rolle zu. Die Instrumententafel kann ihre Form verändern, um auf Gefahren aufmerksam zu machen.
Mercedes:Der F 015 kombiniert eine mit Wasserstoff betriebene Brennstoffzelle und einen Hochleistungsakku, der ausreichend Strom für 200 Kilometer zusätzliche Reichweite speichert. Ganz so schnell wie eine heutige S-Klasse ist die Studie nicht unterwegs, sie wird bei 200 km/h abgeregelt. Der 200 Kilowatt starke E-Motor sitzt auf der Hinterachse.
BMW:Wunder Punkt des Next 100: Er fährt nicht auf der Straße, sondern ist als reine Vision zu verstehen. Daher wurde abgesehen von einem kleinen Elektromotor, mit dem man auf die Bühne rollen kann, kein Antrieb integriert. BMW-Chef Harald Krüger argumentierte bei der Präsentation, dass man nicht nur an den Elektroantrieb denken dürfe.
Mercedes:Der F 015 von Mercedes-Benz zeigt sehr konkret, welche technischen Möglichkeiten sich einer S-Klasse des Jahres 2030 eröffnen. Deutlich wird, wie stark sich das autonome Fahren auf alle Bereiche der Automobilentwicklung auswirkt. Für ein Modell, dessen internationale Käufer mehrheitlich auf den Rücksitzen Platz nehmen, wohl die richtige Strategie.
BMW: Die Münchner wagen mit dem Forschungsfahrzeug Vision Next 100 das eigentlich Unmögliche: 100 Jahre in die Zukunft zu sehen. Auch wenn die Antwort in vielerlei Hinsicht vage bleiben muss, stellt sich BMW doch einer existenziellen Frage: Wie ist der Spagat zwischen autonomem und sportlichem Fahren in ein und demselben Auto zu schaffen?