Herr Bolle, Bosch hat den Anspruch, in jedem definierten Geschäftsfeld eine führende Position einzunehmen. In der Rangliste des Marktforschers IHS ist der Geschäftsbereich Car Multimedia lediglich die Nummer zehn der weltweit größten Infotainment-Anbieter in der Autobranche. Wie kann das sein?
Tatsächlich sind wir Stand heute in dem von uns bedienten Erstausrüstungsgeschäft die Nummer drei weltweit. Die Rangliste von IHS bezieht sich auf den Gesamtmarkt für Infotainment. Der reicht von mobilen Navigationslösungen, über einfache Radios, Verstärker, Lautsprecher bis zu fest eingebauten und vernetzten Navigations- und Infotainmentlösungen. Seit der Trennung vom Handelsgeschäft mit der Marke Blaupunkt im Jahr 2008 konzentriert sich Bosch Car Multimedia auf das Direktgeschäft mit den Autoherstellern. Wir bearbeiten also nur einen Teil des von IHS erfassten Gesamtmarktes.Wir werden uns stark verbessern
Die Trennung vom Handelsgeschäft sollte eine neue strategische Ausrichtung von Car Multimedia markieren. Seit damals hat man aber nicht mehr viel gehört ...
Im Vergleich zu unseren börsennotierten Konkurrenten mag dies so wirken. Daraus den Schluss zu ziehen, dass wir uns intern nicht neu ausgerichtet hätten, wäre aber falsch. Wir haben unser Produktportfolio komplett neu aufgebaut, eine wettbewerbsfähige Fertigungsstruktur aufgebaut und konsequent an der Globalisierung unseres Geschäfts gearbeitet. Davon werden wir in den nächsten Jahren profitieren: Wir werden deutlich schneller wachsen als der für uns relevante Markt und dadurch Marktanteile gewinnen. Perspektivisch werden wir im Erstausrüstungsgeschäft bei Infotainment-Lösungen in den kommenden Jahren von Rang drei auf Rang zwei vorrücken.Was bedeutet das konkret?
In diesem Jahr wird der Umsatz von Bosch Car Multimedia um rundsechs Prozent auf mehr als 1,5 Milliarden Euro wachsen. Der Produktbereich Automotive Navigation and Infotainment Systems wird dazu rund eine Milliarde Euro Umsatz beisteuern. Der Rest entfällt vor allem auf Instrument Cluster - also das Geschäft mit Anzeigesystemen – sowie auf professionelle Systeme.Und wann schaffen Sie die im Konzern und der Kfz-Technik geforderte Umsatzrendite von acht Prozent?
Innerhalb des Bosch-Konzerns werden für jede Business-Unit Renditeziele formuliert, die sich am jeweiligen Marktumfeld orientieren. Eine Umsatzrendite von acht Prozent ist im Geschäft von Car Multimedia herausfordernd. Wir waren mit über vier Prozent im vergangenen Jahr aber deutlich profitabler als viele Wettbewerber. In diesem Jahr werden wir uns noch einmal stark verbessern.Worauf gründet Ihr Optimismus?
Auf der oben kurz beschriebenen strategischen Neuausrichtung, von der wir bereits heute stark profitieren. Wir waren die ersten, die eine komplett neue Generation von Infotainment-Lösungen mit dem Open-Source-Betriebssystem Linux und einem NEC-Prozessor entwickelt haben. Dieses internetfähige System ist seit eineinhalb Jahren bei unserem Kunden General Motors auf dem Markt. Es startete zuerst bei der Marke Cadillac und kommt nun unter unterschiedlichen Bezeichnungen global bei allen GM-Marken inklusive Opel. Das ist schon ein riesiges Volumen. Ein weiterer großer Kunde ist Nissan.Warum ist das Thema Open-Source bei Infotainmentlösungen so wichtig?
In diesem Segment herrscht ein riesiger Kosten- und Wettbewerbsdruck. Zudem gibt es immer mehr und immer anspruchsvollere Anforderungen aus der Consumer-Elektronik, die kurze Entwicklungszeiten und regelmäßige Aktualisierungen über den Produktlebenszyklus erfordern. Bei Bosch haben wir deshalb seit einigen Jahren zwei Welten definiert: Die blaue, klassische Automotive-Welt mit Assistenz-, Komfort- und Sicherheitsfunktionen. Und die rote Multimedia-Welt, die von der Consumerbranche getrieben wird. Darauf haben wir uns mit der Entwicklung einer sogenannten dualen Architektur eingestellt. Der zweite Schritt ist, in Richtung Open-Source und Linux zu gehen. Wenn die Autoindustrie beginnt, sämtliche Funktionen aus der Consumer-Elektronik nach zu entwickeln, ist sie nicht schnell genug und stirbt zudem den Kostentod. Wir müssen also Lösungen finden, die den maximalen Re-Use und einen leichten Übergang zur Consumer-Welt gewährleisten.Was verstehen Sie unter Re-Use?
Traditionell wurden Infotainment-Systeme immer wieder neu entwickelt - etwa dedizierte Produktlösungen für jede Baureihe. Heute geht der Trend dahin, eine Grundarchitektur zu etablieren, die auf zentralen Komponenten wie den Mikroprozessoren und dem Betriebssystem aufbaut und die über das gesamte Portfolio genutzt und fortgeschrieben wird. Durch diese Standardisierung lassen sich die Entwicklungskosten stark senken. Mit Open-Source können wir zudem mit überschaubarem Aufwand und schnell neue Features aus der Consumer-Industrie integrieren.Wie stellt sich Bosch in diesem Kontext auf?
Wir entwickeln gerade an der dritten Generation unserer Infotainment-Systeme, der so genannten Gen3. Diese Lösung wird auf dem Genivi-Standard basieren und komplett skalierbar sein: Das bedeutet, dass wir mit dieser Plattform vom Einstiegssegment bis in den High-End-Bereich die komplette Nachfrage bedienen können. Wir nutzen dabei Freescale-Prozessoren. Wir haben bis heute auf der Gen3 fünf Serienprojekte in der Triade gewonnen. Die ersten Anwendungen kommen 2014 - dann wird auch eine Entry-Lösung in Serie gehen.Und was ist, wenn der Kunde eine andere Vorstellung von seiner Lösung hat?
Die Gen3-Plattform ist für uns der Mainstream. Sie besteht aus einem Hardware-Baukasten und einem Software-Baukasten. Daraus können wir für den Kunden seine individuelle Lösung entwickeln. Hat der Kunde aber andere Vorstellungen bzw. will er im Sinne des Re-Use seine bewährte Plattform mit einem proprietären Betriebssystem wie QNX oder Microsoft weiter nutzen, können wir ihn als Systemintegrator dabei unterstützen. Wir können ihm auch die Headunit nach seinen Vorgaben bauen.Sie fertigen ein fremdes System?
Genau. Wir fertigen nach Zeichnung anderer Hersteller Headunits und andere Produkte. Zu diesem Zweck haben wir die Geschäftseinheit Manufacturing Services gegründet. Übrigens haben wir unsere Fertigung schon vor einigen Jahren komplett in die Niedrigkostenstandorte Portugal, Malaysia und China verlagert.Ein weiterer Trend ist die Trennung von Hard- und Software ...
Auch darauf haben wir eine Antwort: Bei unserer Tochtergesellschaft Bosch SoftTec GmbH haben wir das Software- und Service-Geschäft angesiedelt. Die Gesellschaft vermarktet zum Beispiel mySPIN, eine Lösung zur Integration von Smartphones mit Android- oder iOS-Betriebssystem – und zwar auch unabhängig von unseren Headunit-Produkten. Diese Lösung kommt Anfang 2014 das erste Mal in Serie.Sie gehen davon aus, dass sich Genivi zum Industriestandard entwickelt?
Wir sind der Meinung, dass es zu einer Standardisierung bei den Betriebssystemen im Infotainmentbereich kommt. Aus den bereits genannten Gründen wird Genivi zum Mainstream werden. Die Nutzung von Standardbetriebssystemen ermöglicht erhöhten Re-Use, geringere Entwicklungskosten und eine Differenzierung der Produktlösungen über Funktionsinnovationen.Wenn es einen Standard gibt, wie unterscheiden sich dann die Infotainment-Lieferanten?
Da gibt es im Wesentlichen zwei Kriterien: Innovationen und Systemintegration. Wir bei Bosch wollen Innovation und Tempo in den Markt bringen - und zwar bei Features, die der Kunde direkt erlebt. Bei der Systemintegration wird entscheidend sein, welcher Lieferant in der Lage ist, ein Infotainmentsystem innerhalb eines komplizierten Lieferantennetzwerks mit fremden Komponenten zum geplanten Termin in hoher Qualität in Serie zu bringen. Je nach Sprache und Region kann es erforderlich sein, 40 bis 50 verschiedene Varianten zu fertigen. Nicht jeder Lieferant wird diese Vielfalt realisieren können. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die User Experience. Mit unseren HMI-Lösungen gehen wir über "Usability" hinaus, wir gestalten unsere Systeme so, dass sie intuitiv erfassbar und "erlebbar" sind.Welche Teile der Wertschöpfungskette im Zusammenhang mit vernetzten Autos will Bosch besetzen?
Wir sehen das Thema Connectivity als wesentlichen Technologietreiber: Alle unsere Produkte von der Headunit bis zum Anzeigeinstrument werden vernetzt sein. Darüber hinaus verschmelzen Infotainment und Assistenzfunktionen zunehmend. Ein Großteil künftiger Innovationen wird dabei nicht mehr im Fahrzeug stattfinden, sondern in der Infrastruktur via connected Services. Deshalb haben wir beschlossen, dass wir auch die Infrastruktur – das sogenannte Backend - bearbeiten. Dies tun wir fallbezogen, mit geeigneten Technologiepartnern.Wie soll das genau aussehen?
Das vernetzte Fahrzeug ist ein wandelnder Sensor, der gleichzeitig über eine genaue Positionsbestimmung verfügt. Die gesammelten Daten - beispielsweise Außentemperatur, Regen, Geschwindigkeit, Topographie etc. - können an ein Backend übertragen werden. Dort werden sie gesammelt und zu Informationen aufbereitet. Anschließend können sie wieder an alle Fahrzeuge im Feld übertragen werden. Das nennen wir den elektronischen Horizont und genau hier können wir als Automobilzulieferer Bosch einen Mehrwert schaffen. Dazu muss man jedoch alle Teilaspekte beherrschen von der Navigation über den elektronischen Horizont bis zur Fahrerassistenz. Da gibt es weltweit überhaupt nur einen weiteren Wettbewerber, der über dieses Portfolio verfügt.Können Sie eine konkrete Anwendung nennen?
In etwa drei Jahren wollen wir den so genannten Landstraßen-Assistenten bringen. Dabei passt das Fahrzeug die Geschwindigkeit automatisch an die vorgeschriebenen Limits an. Heute ist das nicht möglich, weil die Verkehrszeichen aus dem Kartenmaterial der Navigation nie auf dem neuesten Stand sind. Die Idee ist also, die Verkehrszeichen an der Straße mit einer Kamera zu erfassen, die Daten im Backend zu bearbeiten und die aktuellen Geschwindigkeitslimits in die Fahrzeuge zu senden. Beim Backend werden wir mit Partnern zusammenarbeiten. Bei den Daten aus dem Consumer-Bereich wollen wir uns hingegen nicht engagieren.Bosch hat vor gut einem Jahr die Mehrheit an Atech, einem chinesischen Anbieter von Kombi-Instrumenten, übernommen. Was ist daraus geworden?
Wir halten 60 Prozent an dem Joint Venture mit dem chinesischen Autohersteller Chery. Atech ist ein Anbieter von programmierbaren Anzeigeinstrumenten für den chinesischen Markt. Wir können somit unser Portfolio von Instrument Clustern erweitern, welches bisher stark im oberen Marktsegment und in Europa vertreten war. Wir haben auch Aufträge jenseits des bestehenden Kundenstamms in China gewonnen. Insgesamt ist unser Geschäft mit Instrument Clustern in den vergangenen vier Jahren stark gewachsen. Wir rechnen damit, dass dieses Wachstum in den folgenden Jahren fortgesetzt wird.