Mit dem Partner Nvidia will Mercedes ein eigenes Betriebssystem entwickeln, das in der Branche führend sein soll. Im Interview mit der Automobilwoche spricht Mercedes-Digital-Chef und CTO Sajjad Khan über den dafür notwendigen Alleingang, die gescheiterte Zusammenarbeit mit BMW, den Konkurrenten Tesla und warum Schwaben ihr Können lieber mit Taten beweisen.
Herr Khan, warum haben Sie sich für das neue Betriebssystem Nvidia als Partner ausgesucht?
Wir arbeiten mit Nvidia schon seit einigen Jahren in Serienprojekten zusammen. So beruht beispielsweise unser Infotainment MBUX auf dieser Kooperation. Wir wissen also, wo die Stärken des Partners liegen und wo wir uns gut ergänzen – auf allen erforderlichen Ebenen. Außerdem haben wir intensiv in unserem Projekt für automatisiertes Fahren mit Bosch zusammengearbeitet. Daraus nehmen wir ebenfalls die Nvidia-Bausteine mit und können diese einbringen. Das sehen wir als die beste Lösung.
Heißt das umgekehrt, das Projekt zum automatisierten Fahren mit Bosch liegt brach und die Zusammenarbeit für die Entwicklung von Robo-Taxis ist beendet?
Nein, das läuft parallel weiter.
Wie viele Mitarbeiter von Daimler sind an der Entwicklung des neuen Betriebssystems beteiligt?
Eine konkrete Zahl zu nennen bringt nichts. Denn es gibt im Bereich der Software-Entwicklung herausragende Mitarbeiter, die im Coding so gut sind wie 30 andere zusammen. Die Kopfzahl allein ist also kein Gradmesser für die Stärke.
Haben Sie denn genügend Mitarbeiter? Die sind ja schwer zu bekommen.
Wir sind in der glücklichen Lage, dass die Marke Mercedes-Benz in den USA, Europa und China eine enorm hohe Strahlkraft hat und wir somit auch die besten Mitarbeiter bekommen. Kluge Partnerschaften spielen hier eine wichtige Rolle. Wir haben beispielsweise das Thema Cloud Computing mit Microsoft und über 100 Leuten in Seattle in kürzester Zeit hochgezogen. Oder nehmen Sie MBUX mit Nvidia oder automatisiertes Fahren mit Bosch. Wichtig ist ja auch, auf der Partnerseite die Menschen zu haben, die hoch qualifizierte Leute auswählen können.
Wer bringt denn mehr Leute ein, Mercedes-Benz oder Nvidia?
Die meisten Entwickler kommen von Mercedes-Benz. Wo es um Chips oder Treiber geht, kommt Nvidia ins Spiel. Wir haben eine konkrete Software-Strategie, die wir in den nächsten Jahren intensiv verfolgen werden. Wir sind ganz klar auf dem Weg, ein Software-getriebenes Unternehmen zu werden.
Warum hat die Zusammenarbeit mit BMW nicht funktioniert?
Es wäre eine sehr gute Sache für den Standort Deutschland gewesen, das war auch der Antrieb. Wir haben mit den Gesprächen auf oberster Ebene angefangen, sind dann in die technischen Details gegangen und waren hier gut unterwegs. Als wir tiefer eingestiegen sind und uns gefragt haben, welche Art Technologiebausteine jeder nutzen will und wie die Zeithorizonte sind, traten größere Unterschiede zutage. Deshalb haben wir einvernehmlich entschieden, die Projekte einzeln weiterzuverfolgen.
Bei BMW ging es hauptsächlich um Fahrassistenzsysteme, bei Nvidia auch um das Betriebssystem. Wie hängt das technisch zusammen?
Wir haben im Auto sechs verschiedene Domänen. Das kann man sich wie eine Art Nervensystem im Fahrzeug vorstellen: Es gibt die Basis-Architektur mit Hardware und Software, dann eine Mittelschicht, darüber kommen die Anwendungen wie etwa Fahrerassistenzsysteme, Infotainment sowie Elektronik und Antrieb inklusive Hybrid. Viele dieser Bausteine existieren bereits heute, die müssen wir nicht neu erfinden. Was von Nvidia hinzukommt, ist "Software as a Service", also die Applikation für eine Domäne.
Das heißt, andere Zulieferer haben das Nachsehen?
Es wird bei uns zukünftig im Haus deutlich mehr Software- und Hardware-Integration innerhalb des Autos geben. Bisher machen das noch viele Zulieferer, die über die ganze Welt verstreut sind. Das kostet uns sehr viel Zeit bei den Abstimmungen. In Zukunft können wir ohne lange Abstimmungsschleifen ein Thema innerhalb von 24 oder 48 Stunden auf die Straße bringen.
Es geht also in erster Linie darum, die vorhandenen Dinge zu vereinfachen?
Wir fangen nicht mit einem weißen Blatt an. Mit jedem existierenden Baustein wie etwa MBUX kommen wir einen Schritt weiter. Vielleicht beschreibt es ein Hockey-Schläger am besten. Er verläuft erst linear und hat am Ende eine steile Kurve. Die sehen wir für 2024 genauso wie für 2028, wo wir mit künftigen Baureihen nochmals deutlich besser werden.
Welche Baureihe bekommt das neue System zuerst?
Das lässt sich so nicht sagen. Große Teile dieses Systems werden wir bereits in den nächsten Jahren in verschiedenen Baureihen sehen. Unsere Kunden müssen also nicht bis 2024 warten. Die neue S-Klasse macht bereits einen großen Schritt in diese Richtung und wird in vollem Umfang Over-The-Air-Update fähig sein. Weitere neue Bausteine kommen im nächsten Jahr mit der neuen Architektur unserer elektrischen Luxusmodelle hinzu.
Als Ziel haben Sie bei der Fahrerassistenz Level 3 der Automatisierung sowie das selbstständige Einparken auf Level 4 ausgegeben. Kann das die neue S-Klasse ab Herbst nicht schon?
Wir werden im September bei der Premiere der neuen S-Klasse etwas vorstellen, so viel kann ich verraten. Bei den Details muss ich noch um etwas Geduld bitten.
Warum wollen Sie sich beim Betriebssystem nicht mit anderen deutschen Herstellern zusammentun?
Wir sind überzeugt, dass wir mit unserem Know-how im Markt ganz vorne dabei sein können, wenn wir weiter hart arbeiten. Das gilt für die Digitalisierung der neuen S-Klasse und das, was 2024 mit Nvidia kommt. Mit MBUX sind wir beim Infotainment bereits heute Benchmark. In diesem Sinne wollen wir das System nicht für andere öffnen, weil eine gemeinsame Entwicklung auch zu lange dauern würde.
Mercedes gegen den Rest der Welt?
Wir sind bereit, unser System später an andere Hersteller zu verkaufen, damit die es nutzen können. Dafür müssen wir es aber zuerst selbst haben. Wir wollen, dass die deutsche Autoindustrie bei der Softwareentwicklung eine Führungsrolle einnimmt. Wir können es uns nicht leisten, dass Unternehmen aus Nordamerika oder China uns hier überholen.
Was für ein Geschäftsmodell versprechen Sie sich vom neuen Betriebssystem?
Bereits heute verdienen wir mit unseren Services einen dreistelligen Millionenbetrag und hätten nicht gedacht, dass wir dies so schnell erreichen. In China beispielsweise können Kunden Essen bestellen, sich Pakete ins Auto liefern lassen oder den Concierge-Service in Anspruch nehmen. Das läuft schon sehr gut.
Wie geht es weiter?
Solche Angebote werden über Apps in unserem eigenen Store immer weiter ausgebaut. So war Amazon Music in früheren Versionen von MBUX noch nicht integriert. Das ist wie in den App-Stores von Apple oder Google, wo die Zahl der Anwendungen auch stetig zunimmt. Wenn die Entwickler einen guten Job machen, und der Kunde einen Mehrwert davon hat, öffnen sie dafür auch den Geldbeutel. Das Potenzial ist extrem hoch.
Wie wichtig ist es für Mercedes, ein eigenes Betriebssystem zu haben?
Das ist unsere Top-Priorität, nicht erst seit 2020, sondern schon seit vier oder fünf Jahren. Es gibt ja Gründe, warum wir die Digital Hubs überall auf der Welt aufgebaut haben. In diesem Bereich werden wir nicht sparen. Aber es geht nicht nur um Geld, sondern auch und vor allem um Talente und Motivation. Mit dieser Partnerschaft sind wir gut unterwegs und beweisen mit Taten, was wir können. Tesla ist smart und gut, aber wir sind auch nicht schlecht. Vielleicht sprechen wir als Schwaben nur nicht so oft darüber.
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