Herr Kuhnert, welche Folgen hat dieser Krieg in Europa für den weltweiten Freihandel und für die Arbeitsteilung in der globalen Automobilindustrie?
Mit den massiven Sanktionen gegen Russland ist das globale Geschäftsmodell der Automobilindustrie in Gefahr, das auf Freihandel und weltweiter Arbeitsteilung beruht. Und es sind Lieferketten in Gefahr, die für ein Funktionieren dieser Automobilindustrie unabdingbar sind. Ohne diese weltweiten Warenströme kann die Transformation der Automobilbranche nicht finanziert werden, wichtige Investitionen in Zukunftstechnologien könnten ausbleiben.
Mit welchen Folgen für die Automobilindustrie rechnen Sie kurzfristig? Wird das Geschäft mit Russland komplett zum erliegen kommen?
Wir sehen, dass bei mehr und mehr OEMs die Bänder stillstehen. Das wird in den nächsten Wochen noch zunehmen. Vorteilhaft für die Industrie wäre es sicherlich, wenn die westlichen Unternehmen mittelfristig wieder Geschäftsbeziehungen mit Russland aufnehmen könnten. Die Drähte sollten also nicht ganz gekappt werden.
Sollten die Unternehmen jetzt nicht schnellstmöglich ihre Lieferketten-Strategie ganz neu durchdenken?
Derzeit interessiert die Unternehmen im Grunde nur die Frage, wie können wir diese Krise kurzfristig bewältigen, wie können wir kurzfristig auf anderen Wegen an Rohstoffe und Komponenten herankommen. Die Industrie ist im Krisenmodus. Grundsätzliche Überlegungen kommen später.
Die IG Metall fordert die Unternehmensleitungen bereits auf, Fertigungskapazitäten rasch nach Westeuropa und Deutschland zurückzuholen. Ist das die Lösung?
Einen Kabelbaum zu fertigen, das bedeutet acht bis zehn Stunden Handarbeit. So etwas in Westeuropa, in Deutschland herzustellen ist möglich – aber zu deutlich höheren Kosten. Natürlich werden sich Unternehmen verstärkt Gedanken machen, ob sie kritische Produktionen besser absichern, auf mehrere Beine stellen und womöglich auch einen Teil nach Europa zurückholen. Aber das will gut durchdacht sein. Die Kosten werden dadurch steigen, die Margen werden sinken – und das würde die notwendigen Mittel beschränken, um die Transformation der Automobilindustrie voranzutreiben.
Wir haben schon häufig gesehen, dass gute Vorsätze rasch wieder in der Schublade verschwinden, wenn eine Krise ausgestanden ist. Sehen Sie diese Gefahr auch für das Thema robuste Lieferketten?
Ja, es ist nicht auszuschließen, dass solche Vorsichtsmaßnahmen, die jetzt angedacht werden, nach einer Bewältigung der Krise schnell wieder vergessen werden. Aber klug wäre das nicht. Die drei großen Krisen der jüngsten Zeit, Covid, Chipmangel und nun der Krieg Russlands gegen die Ukraine, das sind Risiken, die die Unternehmen bislang zu wenig auf dem Schirm hatten. Die Resilienz gegenüber solchen Entwicklungen ist gering.
Die EU und die westliche Welt haben auch massiv die Lieferung von Hochtechnologie nach Russland eingeschränkt. Bedeutet das beispielsweise auch, dass kein einziges modernes Fahrzeug mehr mit Lidar-Technik nach Russland exportiert werden kann?
Das Thema Hochtechnologie ist hoch brisant. Die Unternehmen werden zunächst einmal alle in Frage kommenden Exporte nach Russland stoppen, um nicht Compliance-Probleme zu bekommen. Dabei muss man auch berücksichtigen, dass bei Verstößen gegen Ausfuhrbestimmungen ein benannter Vorstand unmittelbar persönlich haftet. Zudem sind erhebliche Reputationsverluste des Unternehmens und auch persönlicher Art zu erwarten, wenn Ausfuhrbeschränkungen umgangen werden.
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