Herr Göttel, im Geschäftsjahr 2021 haben Sie Umsatz und das Ebitda gesteigert. Geht es 2022 so weiter?
Vor einigen Wochen hätte ich die Frage noch mit ja beantwortet. Wir haben bereits 2018 damit begonnen, unser Unternehmen zukunftsfähiger aufzustellen und wetterfester zu machen. Dadurch haben wir die Krisen der vergangenen Jahre gut gemeistert. Was dieses Jahr noch passieren wird, lässt sich nicht prognostizieren. Wir wissen allerdings, was wir zu tun haben. Die Mechanismen, die uns letztes Jahr erfolgreich haben navigieren lassen, lassen sich auch jetzt wieder anwenden.
Welches Thema beschäftigt Sie derzeit am meisten?
Unser großes Thema ist natürlich die Versorgungssituation, kurzfristig verschärft durch die Lage in der Ukraine mit den damit verbundenen Produktionsausfällen. Aber unsere Industrie hat gelernt, solche Themen zu managen. Das bedeutet Arbeit, Stress und Verlagerung, aber das lässt sich lösen. Zu den Herausforderungen zählen natürlich auch die Inflationsthematik oder die Verfügbarkeit von Rohstoffen. Die aktuellen Zeiten sind nichts für Feiglinge und Unerfahrene. Ich bin seit 1993 in der Automobilbranche, aber in dieser Intensität habe ich die Herausforderungen noch nicht erlebt.
In den vergangenen Jahren gab es von Zulieferseite die Befürchtung, dass die Fahrzeughersteller wieder verstärkt Produktion ins eigene Haus holen. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Punktuell gab es diese Insourcingbestrebungen in Deutschland, aber nicht aus strategischen, sondern eher aus arbeitspolitischen Gründen. Überall sonst auf der Welt, und das betrifft den überwiegenden Teil unseres Geschäfts, sehen wir einen gegenteiligen Trend. Im Prinzip gibt es eine Aufteilung in der Lieferkette. Es gibt sehr viel zu tun für alle. Und unsere Kunden haben durchaus zu schätzen gelernt, dass es Skaleneffekte gibt: Unsere Kunden konzentrieren sich vorzugsweise auf die Themen Elektrifizierung und neue Mobilität. Die im positiven Sinne traditionellen Tätigkeiten insbesondere in neuen Märkten überlassen sie den großen System- oder Entwicklungspartnern wie uns. Wir übernehmen also teilweise auch Produktionen, die bei unseren Kunden früher inhouse gefertigt wurden.
Wie haben sich die Bedürfnisse der Endkunden verändert?
Es gibt eine abnehmende Marken-Loyalität. Vor allem die Elektromobilität bringt neue Konzepte und Marktteilnehmer hervor. Es ist kein Geheimnis, dass viele traditionelle Fahrzeughersteller an Attraktivität verloren haben oder sich auf die neuen Bedingungen einstellen müssen. Das führt bei vielen unserer Kunden zu einem großen Innovations- und Veränderungsdruck. Dabei nehmen die Themen Geschwindigkeit und Flexibilität mittlerweile einen viel größeren Stellenwert ein, um auf kurzfristige Trends reagieren zu können. Volumen und Take rates bei Ausstattungsmerkmalen lassen sich immer schlechter planen. Bei der E-Mobilität wird die Nachfrage beispielsweise nicht nur über das Kundeninteresse, sondern auch über staatliche Interventionen gesteuert. Das heißt, es müssen kurzfristig Kapazitäten geschaffen werden, um diese Bedarfe zu bedienen. Das sind die neuen Herausforderungen. Wir befinden uns in einer hochdynamischen Welt.
Welche Pläne verfolgen Sie mit den Minibussen, den sogenannten People Movern?
Wir haben gemeinsam mit Bosch und Pininfarina eine E-Plattform für verschiedene Fahrzeugsegmente entwickelt. Auf dieser Basis planen wir nun mit Mobileye sowie weiteren Partnern People Mover zu industrialisieren. Im Markt gibt es einen enormen Bedarf nach solcher Hardware. Alle reden über die Software und das autonome Fahren, aber die meisten scheitern aktuell an der Hardware. Auch die Start-up-Szene musste schmerzvoll lernen, dass Fahrzeugbau nicht auf die Schnelle erlernbar ist. Die Hardware ist wirklich eines der zentralen Themen – und wir glauben, mit unserem Netzwerk und unserer Integrationskompetenz einen Beitrag leisten zu können. Aber wir wollen auch keine Pkw bauen, da kennen wir unsere Limitationen.
Wann rechnen Sie mit Serienfahrzeugen?
Der People Mover basiert im Prinzip auf unserem skalierbaren Rolling Chassis. Wenn die Finanzierung gewährleistet ist, wollen wir Ende 2024 in die Pilotierung kommen und dann auch Serienfahrzeuge an die Flottenbetreiber ausliefern.
Unterhalten Sie Produktionsstätten in der Ukraine und Russland?
In der Ukraine nicht, in Russland haben wir ein Werk in Kaluga. Von dort beliefern wir einen großen Kunden. Derzeit ruht dort die Produktion, die Zukunft des Werkes ist aktuell ungewiss. In der Ukraine haben wir kein Werk. Dort sind wir nur indirekt über ausfallende Lieferungen betroffen. Wir haben dort einen kritischen Lieferanten, den wir aber mittlerweile mit viel Aufwand durch andere Quellen ersetzen konnten, so dass wir unsere Lieferungen sichergestellt haben.
Wie viele Mitarbeiter beschäftigen Sie in Kaluga?
Rund 300, die bislang Fahrwerkskomponenten und -module montiert haben.
Mit Corona, Chip- und Rohstoffmangel und Ukraine-Krieg durchlebt die Automobilindustrie etliche Krisen in kürzester Zeit. Wie hat sich das auf das Verhältnis zwischen Fahrzeugherstellern und Zulieferern ausgewirkt?
Das Verhältnis zwischen Fahrzeugherstellern und Zulieferern ist noch nie so intensiv gewesen wie derzeit. Die Diskrepanz zwischen partnerschaftlichem Anspruch und täglicher Wirklichkeit ist auf einem Allzeitabstand. Auf der einen Seite verhandeln die Hersteller, der VDA und wir Zulieferer ein Partnerschaftsabkommen. Im Tagesgeschäft auf Arbeitsebene ist es jedoch so hart und intensiv wie selten zuvor. Zwar gibt es auch wirklich tolle Beispiele in der Zusammenarbeit, aber das Grundcredo ‚Survival of the fittest‘ ist in dieser Krise besonders ausgeprägt. Die öffentlichen Bekundungen einer partnerschaftlicheren Ausrichtung sind noch nicht auf jeder Ebene angekommen.
Welche Schwerpunkte wollen Sie in der nächsten Phase der Benteler-Transformation einleiten?
Wir haben Volumen und Kapazitäten angepasst, unsere Produktion an den bestehenden Standorten verdichtet. Dadurch sind wir nun deutlich resilienter aufgestellt als noch vor einigen Jahren. Jetzt gehen wir in den normalen kontinuierlichen Verbesserungsprozess über. Wir setzen Akzente in den Zukunftsfeldern E-Mobilität und Leichtbau, in der weiteren Internationalisierung sowie auch in der Tiefenlokalisierung. Derzeit ist es ganz zentral, die Lieferketten nochmal weiter zu verkürzen. Kurz: Wir wollen unsere Kunden in die Lage versetzen, sichere, leichte und nachhaltige Mobilität zu ermöglichen.
Welche Auswirkungen wird Ihre Transformation auf Standorte und Beschäftigte haben?
Stand jetzt planen wir keine weiteren strukturellen Veränderungen. Die Standorte, die zur Disposition standen, haben wir verkauft, geschlossen oder uns mit den Sozialpartnern geeinigt. In diesem Jahr stehen in Deutschland noch zwei Werkschließungen an: Bottrop und Weidenau, beide bereits bekannt. Ein weiterer Standort wird in Frankreich geschlossen. Wir sind jetzt darauf vorbereitet, mit unseren Kunden langsam die Halbleiterkrise immer besser in den Griff zu bekommen.
Wie lange werden Sie den Restrukturierungsvorstand Michael Baur noch an Ihrer Seite haben?
Gemäß der Sanierungsvereinbarung begleitet er das Unternehmen bis zur planmäßigen Refinanzierung, die für Ende 2024 geplant ist. Sollten wir die Refinanzierung früher abgeschlossen haben, dann bis zu diesem Termin. Michael Baur hat einen wichtigen Anteil daran, dass Benteler heute deutlich resilienter aufgestellt ist als noch vor einiger Zeit.
Anfang 2021 standen 22 ihrer Zulieferer unter besonderer Beobachtung, galten also als unsicher. Wie hat sich diese Zahl verändert?
Sie hat sich verdoppelt. Die Gründe dafür liegen in der Inflation und in geopolitischen Aspekten. Dort sehen wir teilweise Abhängigkeitsketten im Second- und Third-Tier-Bereich, die potenziell gefährlich werden können. Es gibt auch einzelne Lieferanten, die es dauerhaft nicht schaffen werden, wenn die Krisen weiter anhalten. Wenn Unternehmen singulär von einem OEM abhängen und in einem Land operieren, existiert ein hohes Gefährdungspotenzial. Durch die aktuelle Situation in der Ukraine und in Russland gibt es ein tägliches Screening. Wir prüfen darüber hinaus fortlaufend, ob Lieferanten und Servicepartner auf Sanktionslisten auftauchen.
Sehen Sie in den Lieferketten, im Inflationsthema oder in der Rohstoffversorgung die größte Herausforderung?
Die Rohstoffversorgung lässt sich derzeit für uns nur schlecht greifen. Wir gehen aber davon aus, dass sich diese Thematik mit Geld lösen lässt. Bei der Inflationsthematik wissen wir genau, was wir zu tun haben: Es gibt einen intensiven, partnerschaftlichen Dialog mit unseren Kunden. Das haben wir in den vergangenen Jahren immer gelöst, das werden wir auch in diesem Jahr hinbekommen. Am komplexesten ist sicher die Lieferkettensituation. Wenn beispielsweise in Schanghai wegen Corona-Beschränkungen der Containerhafen für drei Tage stillsteht, merken wir das erst Wochen später. Es gibt sehr viele Variablen, die sich nicht im klassischen Sinn planen lassen.
Ist China das größte Problem?
Nein, das sind die amerikanischen Häfen, wo schlicht das Personal fehlt, um die Ladung zu löschen und die Schiffe zu beladen. Wir haben mittlerweile eine Seefrachtpräzisionsrate von unter 25 Prozent. Sie lag noch nie so tief wie jetzt. Früher haben wir mit Raten um die 80 Prozent gearbeitet.
Seit wann gibt es diese Schwierigkeiten in den USA?
Seit ungefähr einem Dreivierteljahr. Ein weiteres großes Logistikthema sind die fehlenden Lkw-Fahrer. Derzeit ganz besonders, weil in der Vergangenheit viele der Fahrer aus der Ukraine und anderen osteuropäischen Ländern gekommen sind. Man spricht in der Logistikbranche von ungefähr 150.000 Lkw-Fahrern, die aktuell fehlen. Durch unsere Unternehmensgröße genießen wir zwar eine gewisse Priorität bei den Spediteuren, aber das gilt nicht für jedes Unternehmen. Teilweise müssen wir unseren Lieferanten helfen, weil der kleine Werkzeugmacher nicht die Chance hat, sich bei den Spediteuren Gehör zu verschaffen.
Sie haben Ihren Vertrag jüngst um drei Jahre, ab 2023 bis April 2026, verlängert. Was sind Ihre großen Aufgaben für diesen Zeitraum?
Ich will Benteler so zukunftsfähig aufstellen, dass wir nicht nur die aktuelle Krise, sondern auch die nächsten Krisen weiter gut durchstehen. Mit unseren Mitarbeitern weltweit, unserer Erfahrung und unserer Ambition sind wir gut gerüstet. Zudem wollen wir wieder in eine normale Finanzierung kommen. Wir sind bei diesem Thema sogar etwas schneller unterwegs als ursprünglich geplant. Des Weiteren möchte ich Akzente in der Mobilität der Zukunft setzen – konkret mit Angeboten wie dem People Mover. Es war noch nie so spannend in unserer Branche wie zurzeit!
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