Herr Wolf, wie fällt ihre Bilanz nach einem Jahr an der Börse aus?
Wir haben ein tolles erstes Jahr hinter uns, auch wenn die Corona-bedingten Lockdowns in China, der von Russland angezettelte Ukraine-Krieg und Naturkatastrophen es uns nicht leicht gemacht haben. Aber insgesamt sind wir sehr gut vorangekommen. Allein im ersten Halbjahr haben wir knapp sieben Milliarden Euro an Aufträgen im Bereich Elektrifizierung gewonnen. Das war ein richtiger Boom.
Wie sind Sie mit der Entwicklung des Aktienkurses zufrieden?
Wir sind von Anfang an davon ausgegangen, dass es im September zum Verkauf von Vitesco Technologies-Aktien kommen wird, da einige Investoren aufgrund ihrer Statuten die Aktien nicht behalten konnten. Das hat stattgefunden. Jetzt ist der Kurs natürlich durch Unsicherheiten belastet. Der Fortgang des Ukraine-Kriegs, die Halbleiterthematik, Energiekrisen oder das Thema Inflation gehören dazu. Insgesamt hat sich unser Aktienkurs seit Anfang des Jahres aber deutlich besser entwickelt als der von Wettbewerbern oder Indizes, mit denen wir uns vergleichen. Die meisten Analysten erwarten, dass die Aktie zum Ende des Jahres bei 60 Euro liegt und der Outlook ist noch deutlich positiver. Ich bin sehr zufrieden mit dem ersten Jahr.
Welche Produkte waren die Treiber für den Auftragseingang?
Wir bekommen das gesamte Portfolio beauftragt. Darauf sind wir besonders stolz. Es gibt Aufträge für komplette Achsen, für Inverter und für Batteriemanagementsysteme oder unsere Hochvoltbox. Zudem sind wir in der Lage, diese Aufträge praktisch von allen Kunden dieser Welt zu bekommen.
Welche Umfänge können Sie für einen Verbrenner beziehungsweise für ein batterieelektrisches Fahrzeug liefern?
Wenn für ein E-Auto alles von uns käme, dann wäre der maximale Umsatz um Faktoren höher als mit verbrennungsmotorischen Komponenten.
Was bedeutet das konkret?
Wenn ich unser Portfolio im verbrennungsmotorischen Umfeld betrachte, dann könnten wir maximal 500 bis 600 Euro Umsatz pro Fahrzeug erzielen, wenn alles von uns geliefert würde. Für ein batterieelektrisches Fahrzeug liegt der Wert bei etwa 2500 Euro. Das batterieelektrische Fahrzeug bedeutet also einen um den Faktor fünf potentiell höheren Umsatz für uns.
Das heißt, die aggressiveren Elektrifizierungsszenarien kommen Ihnen entgegen?
Ja, das haben wir auch sehr deutlich gemacht. Je schneller die Elektrifizierung kommt, desto besser für uns. Wir gehen auch davon aus, dass der Zwischenschritt 48-Volt-Technologie, also die milde Hybridisierung, weiter ansteigt. Aber zum Ende des Jahrzehnts werden dieser und andere Zwischenschritte im Anteil am Antriebsmix wieder sinken. Wir werden uns dann viel stärker in Richtung batterieelektrische Fahrzeuge bewegen.
Sie hatten mit Elektrifizierungsprodukten im ersten Halbjahr 500 Millionen Euro Umsatz erzielt. Wo wollen Sie mittelfristig beziehungsweise am Ende des Jahrzehnts landen?
Die Entwicklung wird jetzt sehr rasant verlaufen. Wir haben einen Auftragsbestand von über 20 Milliarden Euro alleine bei Elektrifizierungsprodukten. Daraus wird nun zusehend Umsatz. In den nächsten drei bis vier Jahren werden wir 30 Prozent unseres Umsatzes mit Elektrifizierungskomponenten erreichen. Im Jahr 2030 erwarten wir eine Größenordnung 70 Prozent und mehr. Dann haben wir die Transformation hinter uns.
Wie engagieren Sie sich bei der Elektrifizierung im Zweiradbereich?
Unser Fokus liegt klar auf dem boomenden Pkw-Markt. Wir dürfen uns nicht verzetteln. Trotzdem haben wir auch Aktivitäten jenseits des Pkw-Marktes. Im Commercial Vehicle-Umfeld wie auch im Zweiradmarkt. Wir sehen einen Riesenboom an elektrifizierten Zweirädern insbesondere in Indien. Das Land wird die Elektrifizierung über die Zweiräder einleiten und später dann im Pkw-Bereich fortsetzen. Daran wollen wir natürlich partizipieren. Wir schauen, dass wir nirgendwo einen Markteintritt verpassen, wo wir mit unserer Technologie helfen könnten.
Anfang 2022 hatten Sie erklärt, 2024 den Break-even erreichen zu wollen. Liegen Sie im Plan?
Ja, wir sind on Track mit unserem Plan. Allerdings könnten aufgrund extrem hoher Auftragseingänge zusätzliche Vorleistungen in Punkto Entwicklung auf uns zukommen, deshalb werden wir hier genau prüfen was weitere Großaufträge an Vorausleistung bedeuten.
Haben sich schon Interessenten bei Ihnen gemeldet, die Teile Ihres Verbrennergeschäfts übernehmen wollen, um eine Last-Man-Standing-Strategie zu betreiben?
Wir selber haben keine Last-Man-Standing-Strategie, sondern eine Vorwärtsstrategie in Richtung Elektrifizierung. Wenn jemand kommt und sich dafür interessiert, bestimmte Teile zu übernehmen, und es aus wirtschaftlicher Sicht und für die Mitarbeiter Sinn macht, dann stehen wir dem offen gegenüber. Aber es gibt nicht viele Anfragen.
Vitesco hat Rückstellungen in Höhe von 80 Millionen Euro für mögliche Zahlungen im Zusammenhang mit dem Diesel-Skandal gebildet. Wird das ausreichen?
Wir äußern uns dazu nicht. Das ist ein laufendes Verfahren. 2026 wollen sie am Standort Nürnberg bis zu 800 von 1160 Stellen streichen. Wie geht es dort weiter? Lassen Sie mich eines vorausschicken. Durch Preisdruck, Wettbewerbsfähigkeit und andere Dinge wird das Produzieren in Deutschland immer schwieriger. Wir haben uns als Unternehmensleitung die Frage gestellt, ob eine Fertigung in Deutschland überhaupt noch eine Zukunft hat oder sich alles in Richtung Low-Cost-Standorte verlagert. Infolgedessen haben wir ein Modell erarbeitet, wie sich Produktion in Deutschland nachhaltig erhalten lässt. Hätten wir das nicht getan, wäre der gesamte Standort gefährdet.
Können Sie das Modell näher beschreiben?
In dem Konzept wurde definiert, wie wir es schaffen könnten mit einem gewissen Umsatz und einer gewissen Mitarbeiterzahl nachhaltig, also bis weit ins nächste Jahrzehnt, Produktion in Deutschland zu halten. Allerdings nicht mehr auf dem Niveau, das wir aktuell haben. Derzeit werden die Details des Konzepts erarbeitet, die Rahmenbedingungen aber stehen fest. Wir halten auch nicht stoisch an den Zahlen fest. Sollten wir erkennen, dass wir mehr Umsatz - wettbewerbsmäßig interessant - in Nürnberg produzieren können, dann gibt es auch mehr Arbeitsplätze. Aber wir haben erstmal eine Minimumlinie definiert. Es wird sich über die nächsten Jahre zeigen, wie sich das Konzept weiterentwickelt und was daraus wird.
Was müsste passieren, um den Standort Deutschland für Industrieunternehmen attraktiver zu gestalten?
Mit den jetzigen Rahmenbedingungen wird es jedenfalls nicht funktionieren. Da sind Themen wie Lohnniveau oder die Energiekosten. Notwendig wäre auch mehr Flexibilität bei der kurzfristigen Personaleinsatzplanung in Bezug auf beispielsweise Arbeitszeiten, Leasingkräfte oder Schichtpläne. Je flexibler sich diese Planungen handhaben lassen, desto höher ist die Chance, auch bei den gegebenen Rahmenbedingungen einem gewissen Umfang an Produktion in Deutschland zu halten.
Wie ist die Bereitschaft der Kunden, sich an den höheren Kosten durch gestiegene Rohstoffpreise oder gestörte Lieferketten zu beteiligen?
Wir sehen das als Gesamtpaket, zu dem neben den Materialkosten auch erhöhte Ausgaben für Sonderfrachten zählen. Dabei sind wir in der Lage, rund 80 Prozent des Pakets an die Kunden in Form von Preiserhöhungen weiterzugeben.
Wie stabil sind Ihre Lieferketten?
Es gibt ein spezielles Team, dass sich nur um die Wackelkandidaten kümmert. In den allermeisten Fällen wegen eines negativen Cashflows, wenn den Firmen eine Zahlungsunfähigkeit droht. Wir führen eine Liste mit Firmen, die quasi von den Materialverteuerungen überrollt werden. Die Komplexität der Lieferketten hat aber eine noch viel größere Dimension. Wir denken jedenfalls stärker darüber nach, woher wir unsere Komponenten beziehen und wie sicher diese Quellen bei politischen Instabilitäten sind. Das ist eine Diskussion, die wir intern, aber auch mit unseren Kunden führen. Teilweise gibt es auch den Wunsch der Kunden, die Lieferketten sehr eng zu halten und die Abhängigkeiten tendenziell zu reduzieren.
Wie stark belasten Sie die gestiegenen Gaspreise?
Wir benötigen Gas bei uns nicht für einen industriellen Produktionsprozess, sondern wir nutzen Gas zum Heizen. Wir haben mit Gas daher kein direktes, sondern ein indirektes Problem, wenn Fahrzeuge nicht mehr gebaut werden können, weil Produkte, die mit der Chemie-, Stahl- oder Glasindustrie in Verbindung stehen, nicht mehr hergestellt werden können. Die Gesamtenergiekosten sind vor allem ein europäisches Problem, in Asien oder den USA sieht die Situation anders aus. Diese Kostenverteuerung müssen wir an unsere Kunden weitergeben.
Heißt das, dass sich die Wettbewerbssituation europäischer Unternehmen gegenüber nicht-europäischen verschlechtert?
Wenn die Gesamtenergiekosten hoch bleiben sollten, dann wäre das ein Problem. Wir haben aber auf der Wechselkursseite den Effekt, dass unsere Waren wieder billiger werden. Das muss ebenfalls berücksichtigt werden. Bei einem Euro-Dollar-Kurs von nahezu eins zu eins werden exportierte Waren auch wieder günstiger. Insgesamt wäre es aber nicht gut, wenn sich Energie dauerhaft so verteuert. Es ist ja nicht nur eine Frage der Industrie, sondern auch der privaten Haushalte.
Aus dem Datencenter: