In E-Bikes steckt immer mehr Autotechnik

Die Corona-Krise hat viele Verlierer hervorgebracht und zahlreiche Branchen in die Krise gestürzt. Die Fahrradbranche zählt nicht dazu. Im Gegenteil. Als während der Lockdowns in vielen Familien der Urlaub ausfiel, stiegen unzählige stattdessen auf das Fahrrad. 2020 wuchs der Fahrradabsatz in Deutschland nach Zahlen des Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV) um 16,9 Prozent auf 5,04 Millionen. 2021 gab es zwar wieder einen Rückgang auf 4,7 Millionen; das ist aber immer noch deutlich über dem Vor-Pandemie-Niveau von 4,31 Millionen. ZIV-Chef Burkhard Stork spricht von einem "neuen Level", auf das die Branche gesprungen sei.

Für Automobilzulieferer wie Bosch, Brose, Hirschvogel oder Valeo sind das hervorragende Nachrichten. Denn die haben schon vor Jahren das Geschäft mit E-Bikes für sich entdeckt und liefern Antriebs-und Batteriesysteme, Bedieneinheiten oder Komponenten-Plattformen.

Und gerade der elektrifizierte Teil des Fahrradmarkts hat über die Maßen vom Boom profitiert: Von 2011 bis 2021 stieg die Zahl der verkauften E-Bikes hierzulande von 330.000 auf zwei Millionen. Allein von 2019 auf 2020 sprangen die Verkaufszahlen um 600.000 Räder nach oben. Und ein Ende des Trends ist nicht in Sicht. "In den Fahrrad-Kernmärkten Deutschland, Österreich und Schweiz ist bald jedes zweite verkaufte Fahrrad ein Pedelec - die Niederlande haben dies schon erreicht. Von hier aus entwickeln sich wie in konzentrischen Kreisen neue Märkte", sagt Claus Fleischer, Geschäftsleiter von Bosch eBike Systems. Aktuell seien Frankreich, Großbritannien, Italien und die skandinavischen Länder die größten Wachstumsmärkte. Und auch beim Mechatronikspezialisten Brose ist man überzeugt: "Da schlummert noch enormes Potenzial", sagt André Luhn, Leiter des Produktbereichs Mikromobilität.

Der Einstieg der Zulieferer lag nahe, weil sich Know-how aus der Entwicklung und Fertigung von Komponenten für elektrifizierte Autos vergleichsweise einfach auf E-Bikes übertragen lässt. Ein Beispiel ist Valeos 48-Volt- Antriebssystem: "Ursprünglich als erschwingliche Lösungen für die Hybridelektrifizierung konzipiert, wurden die 48V-Systeme von Valeo später zu einer vollelektrischen Antriebslösung weiterentwickelt", sagt Benjamin Morliere, E-Bike Platform Director von Valeo. Es sei damit gelungen, den Sprung zum Akteur für die gesamte Mobilität zu schaffen. Der Standort L'Isle d'Abeau, an dem früher Anlasser hergestellt wurden, übernimmt nun die Entwicklung von 48-Volt-Technologien sowohl für Fahrzeuge wie den Citroën Ami als auch für Fahrräder oder Elektroroller. Ähnlich lief es bei Brose: "Bei der Entwicklung der Brose-E-Bike-Antriebe diente ein millionenfach produzierter Lenkungsmotor für Autos als Basis", sagt Luhn. Weiterer Vorteil der Autosparte im Rücken: Man könne Einkaufs-und Personalressourcen mitnutzen und so wettbewerbsfähiger auftreten.

Synergie ist aber keine Einbahnstraße. Bosch-Manager Fleischer: "Der Autobereich profitiert davon, dass wir bei Fahrrädern viel kürzere Entwicklungszyklen haben. Dadurch können wir zum Beispiel neue Fertigungstechniken früher einführen und unsere Erfahrungen dann mit den Kollegen aus dem Autobereich teilen."

Kaum ein E-Bike kommt noch ohne Teile von Autozulieferern aus. Bosch beliefert mehr als 100 Marken, Brose spricht von über 50 Herstellern und der 2020 gestartete Zulieferer Valeo von 20 Kunden. Der Stahl-und Alu-Komponenten-Zulieferer Hirschvogel nennt zwar keine konkreten Zahlen, CEO Jörg Rückauf betont aber: "Dass wir im Frühjahr 2022 eine eigene Business Unit Mikromobilität gegründet haben, zeigt, welche strategische Bedeutung das Geschäft inzwischen für die Hirschvogel Group hat."

Wirtschaftlich können die Fahrradsparten allerdings nicht mithalten. "Der kaufmännische Beitrag von eBike Systems ist im Vergleich zur Autosparte klein", bekennt Fleischer. Umso größer sei aber der positive Effekt auf das Image, schließlich leiste man mit E-Bikes einen Beitrag zur Verkehrswende. Der ein oder andere Zulieferer dürfte sich ohnehin erst über E-Bikes ins Bewusstsein der Verbraucher gedrängt haben.

Ein Nebeneffekt des Trends ist, dass E-Bikes Autos ähnlicher werden. Die integrierte Stromversorgung macht's möglich: Es gibt Automatikgetriebe, Diebstahlsicherungen, ABS-Systeme, Bordcomputer mit integriertem Navigationsgerät und Smartphone-Einbindung sowie Updates "over the Air". Sogar Diagnosegeräte ähnlich denen, die in Kfz-Werkstatten laufen, sind schon üblich. "Im Grunde genommen ist ein Pedelec ein bioelektrisches Hybridfahrzeug", sagt Fleischer. Statt mit einem Verbrennungsmotor wie im Auto arbeitet der E-Motor hier eben mit einem Muskelmotor zusammen.

In Zukunft dürften Auto und Fahrrad noch näher zusammenrücken. "Das E-Bike wird immer mehr zu einem vernetzten Objekt, und die letzte Eurobike-Messe hat das bestätigt", sagt Morliere. Bosch arbeitet bereits an einer sogenannten "Vehicle to X"-Kommunikation. Diese gibt es bislang nur in einigen Premiumfahrzeugen wie der S-Klasse von Mercedes. Dabei kommuniziert das Auto mit anderen Fahrzeugen sowie perspektivisch mit der Infrastruktur. In diese Kommunikation sollen auch E-Bikes einsteigen und so den Fahrer "digital sichtbar" machen. Fahrrad und Auto könnten einander in Zukunft warnen.

Dennoch steht die Branche vor einem Problem: E-Bikes brauchen wie Autos Mikrochips. "Die Probleme in den globalen Lieferketten und die damit verbundene Komponentenknappheit ist auch in diesem Markt spürbar. Das gilt vor allem für elektronische Bauteile, auf die E-Bikes neben den 'herkömmlichen Fahrradkomponenten' zunehmend angewiesen sind", sagt Rückauf. Eine Entspannung erwarten die wenigsten. "Wir gehen für 2023 weiter von einer angespannten Situation aus", sagt Fleischer.

An einen Wachstumseinbruch glaubt der Bosch-Mann aber nicht. Angesichts rasant steigender Spritpreise könnte er recht behalten.

Aus dem Datencenter:

Lieferzeiten von E-Autos in Deutschland im Jahresvergleich