US-Stromer: Wo der Cadillac Lyriq punktet – und wo er Federn lässt

Seitdem sie Opel verkauft haben, ist es still geworden um General Motors in Europa. Bis auf ein paar Exemplare der Corvette haben sie nicht mehr viel über den Atlantik verschifft. Doch jetzt wagen die Amerikaner einen Neuanfang und wollen mit Cadillac gegen die etablierte Konkurrenz antreten.

Nur dass sie diesmal nicht mehr auf Achtzylinder setzen, sondern auf Akkus. Lyriq heißt der große Hoffnungsträger für das nächste Kapitel, und zwei Jahre nach dem Start in den USA kommt er in diesem Sommer auch nach Europa.

Runde fünf Meter lang, stolze 80.500 Euro teuer und ausschließlich im Direktvertrieb erhältlich, muss er sich dann nicht nur gegen Autos wie den Audi e-tron, den BMW iX oder das SUV des Mercedes EQE behaupten, sondern auch gegen ambitionierte China-Importe und das Tesla Model X.

Aufgebaut ist der Lyriq auf einer neuen, dezidierten Elektro-Plattform, die auf einem innovativen Batterie-Baukasten fußt. Diese Ultium-Architektur nutzt Akkupakete von jeweils 8,5 kWh, die wie Legosteine nahezu frei kombiniert werden können. Beim Lyriq sind es derer zwölf, die sich auf eine nutzbare Kapazität von etwas über 100 kWh summieren und für runde 530 Kilometer Normreichweite stehen.

Und weil die Architektur relativ neu ist und GM in die elektrische Zukunft führen soll, haben sie in Detroit auch bei der Ladetechnik nicht gespart: Für zu Hause gibt es bis zu 19,2 kW Ladeleistung und am Schnelllader zieht der Lyriq den Strom mit bestenfalls 190 kW. Zur Einordnung: Vor zwei Jahren war das noch führend, heute ist es eher gehobener Standard.

Den Antrieb übernehmen dabei je eine E-Maschine pro Achse, die zusammen auf 528 PS kommen und mit mehr als 600 Nm zu Werke gehen. Deshalb hat der vermeintlich behäbige Highway-Cruiser mehr Elan, als man ihm zugetraut hätte. Von 0 auf 100 km/h beschleunigt der Lyriq in kaum mehr als fünf Sekunden und das Limit von knapp 200 km/h ist wohl eher den amerikanischen Gesetzen und der Wahrung der Reichweite geschuldet als den technischen Möglichkeiten.

Verpackt ist das Ganze in einer modern gezeichneten Karosserie, ohne dass sie die Kundschaft gleich so verschrecken würde wie es BMW beim iX riskiert. Die markanten Lichtspiele im geschlossenen Kunststoffkühler sind das einzige, was den Lyriq von konventionellen SUVs unterschiedet. Und vielleicht das flache Dach mit dem zugunsten des cW-Wertes eher sanft abfallenden Heck sowie die Türen mit den bündigen Griffen, die man zum Öffnen nur antippen muss.

Einmal eingestiegen, bietet der Lyriq den Passagieren im Fond dank des großen Radstandes viel Platz und in der ersten Reihe ein zeitgemäßes Cockpit. Das wird dominiert von einem 33 Zoll großen Display, das sich im sanften Schwung über die Mittelkonsole legt. Dass man bei der Bedienung ein bisschen üben und die richtigen Kacheln auf dem Bildschirm suchen muss, das ist in diesem Fall kein Problem. Schließlich hat Cadillac den Lyriq mit SuperCruise ausgestattet.

So nennen die Amerikaner ihre Antwort auf den Autopiloten von Tesla oder den Drive Pilot von Mercedes. SuperCruise ist zwar "nur" nach Level 2 zertifiziert und erlaubt anders als bei den Schwaben nicht den Griff zum Handy, arbeitet dafür aber umfassend und weitreichend. Auf den bereits 200.000 entsprechend digitalisierten Highway-Kilometern jedenfalls kann man die Hände bisweilen sogar stundenlang in den Schoß legen. Jetzt muss Cadillac es nur noch schaffen, die Technik auch in Europa anzubieten.

Eine Plattform auf der Höhe der Zeit. Ein Design, das modern ist, ohne zu verschrecken. Ein cooles Infotainment-System und der vielleicht beste Autobahn-Assistent auf dem Markt. Im Großen und Ganzen haben sie beim Lyriq einen guten Job gemacht. Doch an ein paar Punkten sind sie zu weit gegangen, und an ein paar anderen nicht weit genug.

So waren sie offenbar so stolz auf ihren großen Touchscreen und so eingeschossen auf Tesla, dass man das Handschuhfach jetzt nur über das Menü öffnen kann. Umgekehrt haben sie zum Beispiel den Trend zum Frunk ignoriert und im Bug statt eines Gepäckfachs nur ihre eigene Hardware untergebracht. Wobei das bei einem Kofferraum von fast 800 Litern halbwegs zu verschmerzen ist.

Zwar passt der Lyriq perfekt ins Spannungsfeld zwischen den manchmal überdrehten E-Autos aus China, dem mittlerweile arg angestaubten Model X und den braven Batteriemodellen Audi e-Tron oder Ford Mustang Mach-E. Doch nachdem sich die Amerikaner mehrere Jahre rar gemacht haben in Europa, dürfte ihnen der Start erst einmal schwer fallen. Erst recht mit einem einzigen Auto. Das wissen sie auch in Detroit und wollen deshalb schon im Sommer ein zweites E-Modell für Europa vorstellen.