Es dauert nur 2,9 Sekunden, doch in dieser Zeit vergehen 75 Jahre. Denn so lange dauert es, bis der neue Lotus Eletre aus dem Stand auf Tempo 100 beschleunigt – und bis man alles über den Haufen wirft, was man über den bis dato wahrscheinlich kompromisslosesten Sportwagenhersteller der Welt gelernt hat: Mehr als ein halbes Jahrhundert lang haben die Briten mit Autos wie der Elise Enthaltsamkeit gelehrt und Gelenkigkeit gefordert, haben ihre Kunden unter großen Schmerzen in viel zu kleine Karosserien gezwungen und noch Aufpreise fürs Radio verlangt, als überall sonst schon Touchscreens, DAB und Smartphones-Schnittstellen eingebaut waren – und haben sie dafür mit einer puristischen Fahrfreude belohnt und mit einer Leichtigkeit, wie man sie diesseits des Motorrades kaum finden kann. Und jetzt so etwas! Denn als einer der letzten proben jetzt auch die Weight Watchers aus Hethel den Sündenfall und leisten sich ein SUV.
Das mag zwar die Jünger des asketischen Firmengründers Collin Chapman irritieren, weil der Hoffnungsträger weder sonderlich handlich ist, noch sonderlich leicht, sondern im Gegenteil um die 2,5 Tonnen wiegt, sich auf 5,10 Meter streckt und auf dem Boulevard die volle Breitseite probt. Doch alle anderen werden sich den Hals verrenken und die Augen aus dem Kopf schauen nach dem neuen Blickfang auf der Buckelpiste. Denn spektakulärer und vor allem provozierender als das Trumm aus dem Design-Zentrum in Hethel hat sich noch kein anderes SUV aus der Deckung gewagt.
Ein untypischer Lotus
Lotus stand immer für Leichtbau und Sportwagen. Jetzt zeigen die Briten ihr neues Modell - ein 2,5 Tonnen schweres SUV. Mit dem Sprintwert braucht sich der Eletre allerdings nicht zu verstecken.
Und trotzdem liegen die Dinge diesmal anders und Lotus provoziert mit gutem Gewissen. Denn wenn die Briten schon mit der leichten Lehre brechen und sich ab dem Sommer auf Neuland wagen, dann manchen sie das zumindest zukunftsfest – und deshalb elektrisch. Nicht umsonst gehören sie seit gut fünf Jahren zum chinesischen Geely-Konzern, der aus dem staubigen Sonderling von der Insel eine sportliche Luxus-Marke für die Generation E machen will und den Briten deshalb gleich mal ein neues Entwicklungszentrum und eine neue Fabrik für runde 150.000 Autos im Jahr spendiert hat – allerdings nicht in ihrem schrulligen Königreich, sondern in der chinesischen Provinzmetropole Wuhan, die aus bekannten Gründen seit drei Jahren in aller Munde ist.
Dort läuft in einem blitzblanken und noch erstaunlich leeren Werk als erstes von drei Modellen ein Auto vom Band, das nicht nur der erste Lotus mit vier Türen ist, mit fünf vollwertigen Plätzen, einer umklappbaren Rückbank und einer elektrischen Klappe, die sich über einem Kofferraum schließt, der diesem Namen auch gerecht wird. Sondern der Eletre ist – zumindest in der Lesart von Lotus – zugleich das erste elektrische Hyper-SUV der Welt. Die neue Spitzenstellung beansprucht Lotus in einem Segment, in dem die Geely-Tochter großen Konkurrenten wie Aston Martin, Lamborghini, Ferrari oder Porsche zuvor kommt und in dem es deshalb bis dato neben dem Tesla Model X nur vergleichsweise nüchterne Autos wie den BMW iX oder den Audi E-tron gibt und selbst ein Mercedes EQS SUV vergleichsweise praktisch und pragmatisch auftritt. Dabei punkten die Briten nicht nur mit einem Design, das selbst den Lamborghini Urus in den Streichelzoo verbannt, so scharf sind die Kanten und so spektakulär sind die offenen Schnitte, mit denen der Fahrtwind hinter dem Blech um die Karosserie geleitet wird. Sondern vor allem lockt Lotus mit einem Übermaß an Leistung und Fahrdaten, die eher auf dem Niveau hochgezüchteter Tiefflieger liegen. Schon im Basismodell haben die beiden Motoren zusammen 600 PS und katapultieren den Koloss in weniger als fünf Sekunden auf Tempo 100. Und die Topversion leistet wahnwitzige 900 PS und fährt mit einem offiziellen Sprintwert von 2,9 Sekunden in jenen exklusiven Club, in dem sonst vor allem Supersportwagen zuhause sind. Und wer den Fuß nur lange genug stehen lässt, hat bald mehr als 265 km/h auf dem natürlich digitalen Tacho. Andere E-SUV verschwinden da meist schon im Rückspiegel und auch für Verbrenner wird die Luft in diesen Regionen langsam dünn.
Die Energie für solche eine Rennerei liefert ein Akku mit mehr als 100 kWh, der auf 800 Volt-Basis arbeitet. Er soll für rund 600 Kilometer reichen und auch beim Boxenstopp Tempo machen: Weil der Lotus mit bis zu 350 kW am Gleichstrom-Stecker zieht, fließt binnen 20 Minuten im besten Fall der Strom für 400 Kilometer.
Zwar verspricht Lotus ein direktes Fahrerlebnis fast so wie man es von Elise & Co kennt – und rüstet dafür kräftig auf: Die serienmäßige Luftfederung mit Wankausgleich, ein variabler Allradantrieb mit Torque Vectoring und eine Hinterachslenkung wecken zumindest ein paar Erinnerungen an jene engen und schnellen Tänze, die man einst mit der Elise auf den Asphalt gebrannt hat. Und auch wenn der Eletre aller Technik zum Trotz eher Elefant ist als Elfe und man schon eine glatte Piste braucht, um sein Potential voll auszureizen, entfalten Diät-Elektronik und Elektrotuning einen Reiz, dem sich auch Petrolheads schwer entziehen können.
Doch wissen die Briten selbst, dass individuelle Fahrfreude längst nicht mehr das allein seligmachende Kriterium ist. Deshalb rüsten sie den Eletre mit mehr Assistenzsystemen denn je und haben ihn mit einem versenkbaren Lidar-Sensor auf dem Dach, einem über dem Heck und zwei weiteren in den Kotflügeln sogar fit gemacht fürs autonome Fahren. In gar nicht mehr allzu ferner Zukunft sollen die Kunden deshalb die Hände in den Schoß legen und den elektronischen Co-Piloten seinen Job machen lassen. Warum man dafür dann allerdings noch ein Hyper-SUV braucht, das wissen die Götter – oder eben die Chinesen.
Und denen kann Lotus nur dankbar sein. Erstens, weil sie den Briten die Fabrik gebaut und die Entwicklung bezahlt haben. Und zweitens, weil sie dem Eletre ein Hightech-Interieur geschneidert haben, das die Konkurrenz aus Italien, aus Deutschland und aus dem Königreich in die digitale Steinzeit verbannt, so schnell und brillant sind die Grafiken und so irrwitzig schwebt der riesige Flatscreen beim Losfahren in die Vertikale.
Am meisten Dank allerdings gebührt den später mal 2400 Werkern in Wuhan für ihre billige Arbeitskraft. Denn während so vieles am Eletre von Design bis zu den Fahrleistungen tatsächlich Hype ist, bewahren die Briten beim Preis eine erfreuliche Bodenhaftung: Der beginnt bei in dieser Klasse fast schon lachhaften 95.990 Euro.
Aus dem Datencenter: