Risiko Lieferketten: Das Ende eines perfekten Systems

Der Frust musste raus. Der verpatzte Anlauf von 48-Volt-Batterien beim Zulieferer Bosch verärgerte Mercedes-Finanzchef Harald Wilhelm derart, dass er es Journalisten zumindest nicht schwer machte, den Namen des beschuldigen Unternehmens ausfindig zu machen. Ein höchst ungewöhnliches Vorgehen in einer Branche, die Probleme in den Lieferbeziehungen meist äußert diskret behandelt. Doch die Verärgerung bei Mercedes ist groß. Die massiven Produktionsengpässe bei neuer E-Klasse und GLC führten 2023 zu einem um 100.000 Einheiten geminderten Absatz. Der entgangene Gewinn summiert sich geschätzt auf über eine Milliarde Euro.

Während das Wechselspiel zwischen Lieferanten und Herstellern über Jahrzehnte perfekt funktionierte, knirscht es seit der Corona-Krise gewaltig. Mercedes ist keine Ausnahme. Auch im VW-Konzern kam es in den vergangenen Monaten bei verschiedenen Marken immer wieder zu Lieferschwierigkeiten. Neben der Kernmarke, wo beispielsweise der Bestseller Golf über Wochen nicht an Kunden ausgeliefert werden konnte, erwischte es auch den Sportwagenhersteller Porsche. So standen phasenweise Hunderte Macan-SUVs wegen fehlender Matrix-Scheinwerfer in Leipzig auf dem Hof. Auch die Fertigung des elektrischen Taycan stockte immer wieder.

Für Porsche-Produktionschef Albrecht Reimold liegen die Probleme inzwischen nicht mehr nur an geopolitischen Verwerfungen wie dem Ukraine-Krieg oder den Nachwirkungen des Halbleiter-Mangels. „Nicht jeder ist in der Lage, die Industrialisierung von Produkten so voranzutreiben, dass sie zum richtigen Zeitpunkt die richtige Qualität haben. Heute müssen wir öfter mal nachjustieren“, klagt Reimold. Das liege auch daran, dass viele erfahrene Mitarbeiter während der Covid-Zeit in den Ruhestand gegangen seien. „Die jungen Leute müssen dieses Knowhow erst aufbauen.“

Um die Lieferkette zu stabilisieren, greifen die Hersteller im Zweifel selbst ein. So beteiligte sich Porsche etwa vor wenigen Wochen am Batterie-Hersteller Varta, um die Lieferung der Hybrid-Batterie für den 911 langfristig abzusichern. Varta steckte zuletzt immer wieder in Turbulenzen. Porsche aber will das Risiko eines Produktionsausfalls minimieren. Solche finanziellen Engagements tauchen in den Bilanzen allerdings meist nur als Randnotiz auf.

Bei Mercedes wurde das 48-Volt-Thema sogar zur absoluten Chefsache. Vorstandschef Ola Källenius ließ sich von Bosch-Chef Stefan Hartung im Werk Eisenach mehrfach persönlich die Fortschritte in der Produktion erklären. Bosch-Mobility-Chef Markus Heyn hatte im Interview mit der Automobilwoche eingeräumt, dass die Komplexität des Produkts eine Industrialisierung erschwert habe. Außerdem sei das Projekt in der Corona-Zeit unter erschwerten Bedingungen gestartet. Er sagte aber auch: „Wer innovative Produkte in die Autoindustrie bringen will, der muss bereit sein, ein gewisses Risiko einzugehen.“

Zwar hat Mercedes mit BEAT 26 ein Programm gestartet, um die Performance seiner Zulieferer zu verbessern. Allerdings geht es dabei in erster Linie um die Senkung von Materialkosten, wie eine Sprecherin auf Anfrage der Automobilwoche klarstellt. Dabei würden auch im eigenen Haus Effizienzen überprüft. Man könne die Transformation nur gemeinsam schaffen. Eine generelle Zunahme von Insolvenzen oder anderen Schwierigkeiten mit Zulieferern will das Unternehmen dagegen nicht bestätigen, räumt aber ein: „Heute gehen wir in noch engere Abstimmungen mit unseren Lieferanten, um das System für die Zukunft robuster zu machen.“

Aus Sicht der Zulieferer ist vor allem die gestiegene Volatilität bei den Stückzahlen in den vergangenen Jahren zur größten Herausforderung geworden. So kann der Wegfall einer Förderung für die Elektromobilität in einem wichtigen Markt erhebliche Auswirkungen auf die geplanten Kapazitäten von Batteriekomponenten haben. Gleichzeitig ist die Nachfrage nach Verbrennern wieder deutlich gestiegen, weshalb Hersteller hektisch umsteuern. „Wir haben kurzfristige Schwankungen. Wir hören dann freitags, dass die Teile montags nicht gebraucht werden. Das ist dann kritisch“, sagt der Chef eines Zulieferers aus dem Elektronikbereich.

In die gleiche Kerbe schlägt der Geschäftsführer eines schwäbischen Mittelständlers. „Es ist leicht, die Probleme auf die Zulieferer zu schieben – aber wenn man investiert hat, die Anlagen da sind und dann die versprochenen Umfänge nicht kommen, ist das ein Problem“, sagt er. Die aktuelle Herausforderung bestehe darin, Verbrenner- und Elektrowelt parallel zu managen. Manch ein Zulieferer sei daher zurückhaltend geworden und kalkuliere lieber konservativ. „Das ist ein reines Cash-Thema.“

Auch Martin Peters, geschäftsführender Gesellschafter beim Abgasspezialisten Eberspächer, will die Vorwürfe pauschal nicht gelten lassen. Zwar hatte das Unternehmen im vergangenen Jahr selbst mit einem verpatzten Anlauf für einen amerikanischen Autobauer im US-Werk in Kentucky zu kämpfen und startete zudem eine Initiative für operative Exzellenz. „Aber mit erfahrenen Mitarbeitern an gewachsenen Standorten funktioniert das in der Regel gut“, sagt er. Würden aber wie in Kentucky ein neues Produkt, ein neues Werk und neue Mitarbeiter erforderlich, könne es schwierig werden.

Mit der Entwicklung vieler neuer Komponenten stellt sich das Thema der Risikoverteilung neu. „Ich kenne große Zulieferer, die auf ihren Teilen für E-Antriebe inklusive der Entwicklungskosten sitzenbleiben“, sagt Christian Vietmeyer vom Wirtschaftsverband Stahl- und Metallverarbeitung. Die Volatilität und Unzuverlässigkeit im Bestellverhalten dauere seit der Corona-Krise an. „Das führt bei den Zulieferern zu Frust.“ Diese strebten nun eine Neuverteilung des Risikos an.

Auch Robert Dust, Experte für Lieferketten und Rektor der bbw-Hochschule Berlin, sieht vor allem die Hersteller in der Pflicht. „Diese müssen sich auch die Frage stellen, ob sie die Vorleistungen für eine gute Performance der Zulieferer erbringen“, sagt der Professor. Vor allem die über Jahrzehnte gewachsene IT-Landschaft bei den OEMs sei oft nicht in der Lage, die gestiegene Komplexität in den Lieferbeziehungen abzubilden.

Zwar fehle es nicht an Daten, aber dafür an einer sinnvollen Verarbeitung durch entsprechendes Fachpersonal. „Da klaffen Anspruch und Realität oft meilenweit auseinander“, so Dust. Zwischen Vertrieb, Einkauf und Produktion seien viele Prozesse nicht vereinheitlicht, was am Ende zu Fehlplanungen oder kurzfristigen Schwankungen führe.

Oft fehle es auch an einheitlichen Schnittstellen mit den Zulieferern, was die schnelle Kommunikation erschwere. Neben einer Regionalisierung der Lieferantenbeziehungen ist daher die Schaffung eines einheitlichen Datenraums aus Sicht von Dust eines der Hauptaufgaben der Industrie für die kommenden Jahre.

Tatsächlich sind Mercedes und andere Hersteller derzeit bemüht, das Daten-Ökosystem mit den Lieferanten zu vereinheitlichen. „Ganz konkret soll uns das Partnernetzwerk Catena-X dabei unterstützen, Daten schneller und automatisiert auszutauschen und somit unter anderem Einkaufsprozesse noch effizienter und transparenter zu gestalten“, so die Mercedes-Sprecherin. Mithilfe intelligenter Software könnten so beispielsweise Engpässe in Lieferketten frühzeitig erkannt werden.

Bestellstopps für Fahrzeuge oder lange Wartezeiten bei der Auslieferung sind am Ende für Zulieferer wie für Hersteller gleichermaßen Gift. „Die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der gesamten Wertschöpfungskette ist ein bedeutender Erfolgsfaktor, vor allem in Bezug auf die Verfügbarkeit unserer Produkte für unsere Kundinnen und Kunden“, heißt es bei Mercedes.