Stagnation oder Spitze? Europas Autoindustrie am Scheideweg

Das Jahr 2024 ist für die Autoindustrie ein Jahr des Übergangs – und der Unsicherheit. Die Industrie muss einen Balanceakt meistern: Einerseits liegt der Verkauf von batterieelektrischen Fahrzeugen in Deutschland und Europa im ersten Halbjahr 2024 deutlich unter dem Vorjahr, wenngleich sich eine leichte Erholung im zweiten Halbjahr andeutet.

Andererseits wird China mit hoher Geschwindigkeit zu einem Elektromarkt, in dem im Sommer 2024 erstmals mehr BEV, Range-Extender und Plugin-Hybride als Verbrenner zugelassen wurden.

Neben der technologischen Unsicherheit steht die Industrie auch vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen, da Technologiewandel und geopolitische Unsicherheiten erhebliche Kosten verursachen – allein sieben Gewinnwarnungen europäischer Hersteller in diesem Jahr sprechen eine deutliche Sprache.

Die Kernfrage für die europäische Autoindustrie ist also: Wie kann sie weiterhin an der Spitze bleiben? Aktuell trägt die Autoindustrie mit rund 1.800 Mrd. Euro Bruttowertschöpfung fast acht Prozent zum europäischen Bruttoinlandsprodukt bei.

60 Prozent der Wertschöpfung der Automobilindustrie entstehen in der Fahrzeugproduktion, bei Zulieferern und im Handel („upstream“); 40 Prozent im Aftermarket und durch Services („downstream“).

Die gute Nachricht zuerst: Wenn der europäischen Autoindustrie der Wandel gelingt – das heißt, wenn europäische Hersteller ihre Marktanteile in Europa halten und die Batteriewertschöpfung zu 75 Prozent in Europa liegen würde – könnte die europäische Wertschöpfung bis 2035 auf rund 2.000 Milliarden Euro sogar ansteigen.

Die schlechte: Wenn der Marktanteil europäischer Hersteller in Europa bei batterieelektrischen Autos von heute 60 Prozent auf 45 Prozent im Jahr 2035 sinken sollte – eine Fortschreibung der Marktanteilsverluste in den vergangenen sieben Jahren – und es nicht gelingt, die Batterieproduktion stärker zu lokalisieren, könnten knapp 400 Milliarden Euro Wertschöpfung auf dem Spiel stehen.

Aktuell hat ein heute in Europa produziertes Fahrzeug mit Verbrennungsmotor 85 bis 90 Prozent seiner Wertschöpfung in Europa. Bei einem von einem europäischen Hersteller in Europa produzierten batterieelektrischen Fahrzeug sinkt der Anteil der Wertschöpfung bereits auf 70 bis 75 Prozent, da die Batterien oft aus Asien bezogen werden.

Ein von einem nicht-europäischen Hersteller in Europa produziertes E-Auto liegt noch bei 55 bis 60 Prozent, ein importiertes batterieelektrisches Fahrzeug nur noch bei 15 bis 20 Prozent Anteil europäischer Wertschöpfung.

Kurz gesagt: Je mehr E-Autos Europa importiert und je weniger wir sie selbst entwickeln und produzieren, desto geringer die wirtschaftliche Bedeutung und desto größer auch der Druck auf die Arbeitsplätze.

Es gilt, den „downstream“ ebenfalls in den Blick zu nehmen: Finanzierung, Versicherung, „connected services“, Batterierecycling, Laden und vor allem der klassische Ersatzteile- und Aftermarket, der eine enorme Bedeutung hat und ein großes Ertragspotential bietet.

Es sollten jetzt die richtigen Weichen gestellt werden, damit die Autoindustrie auch in der Zukunft einen maßgeblichen Beitrag zu Europas Wohlstand beiträgt. Um erfolgreich in die nächste Dekade zu gehen, sollten die europäischen Automobilunternehmen eine Reihe von Themen angehen, die sie selbst beeinflussen können – von der Produktivität und Kostenposition bis hin zur Innovationsgeschwindigkeit und viele mehr.

Über diese individuellen Maßnahmen gibt es bereits eine intensive Debatte; und die meisten Unternehmen sind bereits mitten in der Umsetzung. Daher soll hier der Fokus hier auf ein weiteres Themenfeld gerichtet werden, das noch nicht in gleichem Maße diskutiert wird: die übergreifende Zusammenarbeit zwischen Unternehmen.

In dieser wirtschaftlich schwierigen Situation müssen vor allem OEMs und Zulieferer zusammenrücken: Größere Transparenz über und Stabilität von Volumenplanungen, mehr Nutzung von Produktplattformen und ein gemeinsames Tragen von Risiken. Hierzu gehört auch, einen strategischen Blick auf die weiterhin benötigten Verbrennerkomponenten zu entwickeln und gegebenenfalls zu konsolidieren.

Auch bei Zukunftsthemen wie Batterien und Halbleitern ist ein Schulterschluss wünschenswert: Gemeinsame Investitionen, aber zumindest ein gemeinsames Verständnis von Standards kann helfen, Kosten zu reduzieren. Auch in der Software und dem autonomen Fahren ist eine intensivere Zusammenarbeit in den Bereichen denkbar, die nicht differenzierend für den Kunden sind.

Doch nicht nur die Industrie muss sich bewegen: Es braucht auch politische Rahmenbedingungen für die Autoindustrie in Europa, damit sie weltweit mithalten kann. Dazu zählen niedrigere Energiekosten, aber auch ein verlässlicher Regulierungsrahmen. Dieser sollte mit Unterstützungsmaßnahmen flankiert werden – damit die Industrie diese Mammutaufgabe auch bewältigen kann.